Düsternis, Nebel und Tschaikowski

Impressionen vom 19. Internationalen Festival „Tanz im August“

Berlin, 02/09/2007

Dass sich die 19. Ausgabe von Tanz im August nicht nur als Anlauf für das Jubiläum im nächsten Jahr verstand, sondern wieder eine Zusammenschau dessen versucht hat, was derzeit unter dem Label zeitgenössischer Tanz firmiert, ehrt das Kuratorenquintett. Freude an der Auseinandersetzung mit Form und Inhalt haben sie bei ihrer Vorrecherche unter den Choreografen ausgemacht und entsprechend 20 Produktionen aus elf Ländern eingeladen, darunter zwei Uraufführungen und elf Deutschland-Premieren. An 16 Tagen liefen sie in zehn Aufführungsorten vom Haus der Berliner Festspiele und der Volksbühne über das Hebbel am Ufer bis zum Podewils’schen Palais. Bei Konzerten, Filmen, Fotoausstellungen, Installationen, Einführungen für Teenager, Theorieveranstaltungen als üppigem Rahmenprogramm lag die Zuschauerkunst in der Auswahl. Die galt zuvörderst den großen Namen unter den Festivalgästen. Etwa Anne Teresa De Keersmaeker, deren Gruppe Rosas mit einem „Steve Reich Evening“ den Auftakt bestritt.

Mit vier Arbeiten aus 25 Jahren huldigte die Belgierin dem amerikanischen Minimalisten, fand für dessen Kompositionen mit ihren das Ohr sensibilisierenden Verschiebungen aus der instrumentalen Synchronität kongeniale choreografische Umsetzungen. So reagieren in „Piano Phase“ zwei Tänzerinnen souverän auf die zeitlichen Ver-Rückungen im Vortrag der beiden Pianisten. „Eight Lines“ für acht Stimmen lässt acht weibliche Elementarteilchen sich präzis wie ein Uhrwerk im Kreiswirbel verlieren, „Four Organs“, weniger zwingend, verstrickt fünf Männer in ein Spiel aus Raffung und Dehnung von Tempo, „Drumming“ konfrontiert das ganze vorzügliche Ensemble mit raffiniert verschachtelten Rhythmen.

Formversuche auch bei Keermaekers kanadischem Kollegen Édouard Lock und seinen LaLaLa Human Steps: „Amjad“ dekonstruiert mit klassischen Ausnahmetänzern die Story von „Schwanensee“ und fügt sie neu zusammen - als eine flink athletische, bisweilen humorige 100-Minuten-Tour de force aus Pirouetten, Kippungen, Hebungen, Pantomime, einem Verwirrspiel der Personen, auch durch ständig wechselnde Spots und Videoeinblendungen. Tschaikowskis zerstückelte Partitur in ihrer eigenständig uminstrumentierten Live-Interpretation durch drei Musiker scheint als Raum latenter Gefühle nur noch auf. Ein Männerduett und der Spitzentanz eines Solisten bilden den Höhepunkt im flirrenden Fragepoker um Vision und Realität, Trug und Traum.

Beschaulicher Jean-Claude Gallotta aus Genoble. Eineinviertel dichte Stunden lang lässt er in „Von Menschen, die tanzen“ tragikomisch und agil zehn Darsteller verschiedener Altersstufen und Nationalität einfach tanzen, reden, spielen, aus Liebe, in Erinnerung an die Jugend, Freude an der Gegenwart, Vorschau auf die Zukunft: den Tod. Ein quirliger Parlierer fährt immer wieder dazwischen, trennt und bündelt die Duette und Ensembles. Sind die Tänzer angekommen, fragt er zum Schluss der heiter nachdenklichen, so menschlichen Melange.

Inhaltlich arbeiten auch die Amerikanerin Meg Stuart und der Österreicher Philipp Gehmacher in „Maybe Forever“, dem emotional furiosen Festivalfinale. Wiederholt proben ihre Figuren, isoliert, verschlossen, hilflos, in Augenblicksbildern Annäherung und Zweisamkeit, rutschen aus der Umarmung ab, nehmen neuen Anlauf. An der Unschärfe seiner Gefühle prallt ihr Wollen ab. Als er bereit wäre, ist es zu spät: Beim Gitarristen Niko Hafkenscheid, dessen melancholische Liedchen den Abend kolorieren, hat sie Zuflucht gefunden. Gehmachers sparsam zeichenhafte Bewegungssprache ergänzt sich hier geradezu symbiotisch mit Stuarts explosiverem Ausdruck.

Mit zwei Duetten traten der englische Tänzer Jonathan Burrows und der italienische Musiker Matteo Fargion in einen intelligenten, verschmitzten Dialog. „The Quiet Dance“ testet trickreich die Bewegungsreaktion des anderen auf Lautvorgaben, „Speaking Dance“ entwirft eine Verbalchoreografie aus Wortrhythmen, Sprachmusik und Volksliedern.

Düster vollzog sich Gisèle Viennes Festival-Debüt. In „Kindertotenlieder“ gestaltet die Französin einen Mix aus heidnischen Maskenritualen und Black-Metal-Zeremonien mit Neonazi-Einschlag. Eisig wie die Gefühle der Akteure ist die Schneelandschaft aus Tänzern und menschengroßen Puppen. E-Gitarre überdröhnt das beklemmende Zeitlupen-Porträt einer paralysierten, kapuzenversteckten Jugend, deren Überdruss nur Trinken und Töten kennt.

Deprimierend auch die Performance ihres Landsmanns Vincent Dupont: Befreiung durch Zerstörung, als sei die Aktionskunst der 1970er auferstanden. Profis und Amateure animiert in „Portrait Series Berlin“ der Belgier Michael Laub, ihre Lebensgeschichten zu erzählen.

Bleiben die übrigen Beiträge. Weder die amerikanische Alt-Avantgardistin Yvonne Rainer noch der französische Konzeptartist Xavier Le Roy wussten Strawinskis „Sacre du Printemps“ neue Aspekte abzuringen: Uraufführungs-Impressionen contra musikalisches Gebärden-Dolmetschen. Keersmaekers Solo „Keeping Still Part I“ bestach durch Licht und Raum, weniger durch die Bewegungsqualität, an Sarah Michelsons Klassisch-Verschnitt aus New York überzeugte einzig die bizarre Bühne. Die Frage der Ungarin Esther Salamon nach der eigenen Identität im Vergleich mit erfundenen Namensvettern strandete in Überlänge und Langatmigkeit, Nicola Mascias und Matan Zamirs ambitionierte Travestie „Ladies First“ in Belanglosigkeit. Wie es geht, bewiesen Mascias Kollegen Claudia de Serpa Soares und Grayson Millwood aus dem Umfeld von Sasha Waltz: „Edgar“, ihr adagioakrobatisch perfekt ausgetüfteltes Duo um einen fetten Kartonwelt-Bewohner mit Zirkus-Faible, überwältigt durch Fantasie, Fabeldichte, Theaterinstinkt.

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