In Erinnerung an...

„Cranko Moves 1“ mit „Brouillards“, „Présence“ und „Jeu de cartes“

oe
Stuttgart, 28/10/2007

Cranko lebt! Und wie – vierunddreißig Jahre nach seinem Tod! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dieser Abend „Cranko Moves“, der gegenwärtig ihm gewidmeten Ballettwoche hätte ihn erbracht. Lebendiger als dieser Sonntag im Stuttgarter Schauspielhaus kann kein Theaterabend sein. Das genau, genau das ist, was die Leute ins Theater treibt, wieder und wieder. Und wozu sie bereit sind, eine Menge Geld auszugeben. Was lesen wir da auf diesen Programmzetteln der frühen Nachkriegsjahre? Preise von DM 2,50 bis 12,-.

Ein Blick zurück – als wir (und damit meine ich nicht mich im Pluralis Majestatis), die bei der Premiere dabei waren, noch an die vierzig Jahre jünger waren – also etwa halb so alt wie es John Cranko heute wäre (und wir heute sind). Das Programm dieses Abends präsentiert die drei Stücke in umgekehrter Entstehungs-Reihenfolge – was durchaus sinnvoll erscheint. Zuerst also die Debussyschen „Brouillards“ von 1970, damals Auftaktballett eines Abends, dessen Pièce de résistance Kenneth MacMillans „Fräulein Julie“ (mit Marcia Haydée, Heinz Clauss und Frank Frey in den Hauptrollen) war. Im Mittelpunkt „Présence“, entstanden 1968 für die Schwetzinger Festspiele zu Bernd Alois Zimmermanns gleichnamigen Trio für Violine, Cello und Klavier, uraufgeführt von Marcia Haydée, Richard Cragun und Heinz Clauss. Und als Finale Strawinskys „Jeu de cartes“, das sich am Premierenabend 1965 gegen Crankos „Bouquet garni“ (Rossini-Britten) und George Balanchines „Allegro brillante“ (Tschaikowsky) sowie dessen „La Valse“ (Ravel) zu behaupten hatte.

Eine Programmzusammenstellung, die mich dazu veranlasst, meinerseits Erinnerungsarbeit zu betreiben. Also beginne ich in meinem Archiv zu kramen. Mal sehen, was ich damals für einen Unsinn verzapft habe! Meine Premierenkritik über den „Jeu de cartes“-Abend erschien in der „Stuttgarter Zeitung“ noch auf Seite 2 unten, vierspaltig (ohne Bild – der übliche Platz für den Feuilleton-Aufmacher). Das waren sozusagen meine Honeymoon-Jahre bei der StZ, die mich heutzutage in Nostalgie schwelgen lassen. Hingerissen war ich von Crankos Strawinsky-Choreografie nicht unbedingt, bescheinigte ihr aber immerhin eine „stellenweise wirklich amüsante Drolerie, die aber leider immer wieder in eine typisch englische Slapstick-Humorigkeit ausartet, von der wir gehofft hatten, dass Cranko sie ein für allemal überwunden hätte.“ Die Tänzer jedoch waren hinreißend, besonders Birgit Keils verdutzte Herzkönigin, Chesterina Sim Zechas urkomische Karo-Zwei und vor allem natürlich Egon Madsens hinreißender Joker, „eine Satyrgestalt von nicht zu unterschätzender Gefährlichkeit“.

Heute genieße ich ihren Witz, ihre knackige Frische, ihre überbordende Fröhlichkeit, ihre draufgängerisch-augenzwinkernde Burschikosität (besonders ihr kraftmeierisches Herzbuben-Quintett, nicht zu reden von Alexander Zaitsevs puckischem Joker). Und sich daran zu erinnern, dass ihre Ausstattung von einer damals Achtzehnjährigen namens Dorothee Zippel stammte. Die Schwetzinger Premiere von 1968 hat sich als einer der peinlichsten Cranko-Flops eingeprägt – des „Kyrie Eleisons“ wegen (mit Birgit Keil als Maria, Jan Stripling als Josef und Egon Madsen als Engel – ein Ballett über die „Verkündigung“ – „halb Schwangerschaftsgymnastik, etwas Barlach und sehr viel Balanchines ‚Apollo‘“.

John Neumeiers erste größere Gruppenchoreografie „Separate Journey“ zu Samuel Barbers „Capricorn Concerto“ erschien mir dagegen als ein ausgesprochener Gewinn. Crankos „Présence“ aber mit Marcia Haydée als Molly Bloom, Richard Cragun als Roi Ubu und Heinz Clauss als Don Quichote war der absolute Clou des Abends: „Eine sinnverwirrende Folge von akustischen und optischen Eindrücken – ein Spektakel, in dem sich Archaisches mit Futuristischem vermählt, Parodistisches mit nur zu Ernstgemeintem – schwer zu deuten, aber von intensivster Nachwirkung.“ „Theater für Tänzer“ hieß die Überschrift meiner Kritik – zu einem Zeitpunkt, als der Begriff „Tanztheater“ gerade in den Köpfen zu rumoren begann. Und dessen Schlusssatz lautete: „Ein Ballett, ganz nach dem Geschmack der außerballettistischen Opposition, zu deren Anhängern sich auch der Unterzeichnete bekennt“ (und der hieß, wie gesagt, oe – Hört! Hört!).

Das war im Mai 1968, genau in jenem Monat der évenéments du mai bevor ein Johann Kresnik in Bremen sein Engagement antrat, fünf Jahre vor Pina Bausch in Wuppertal! Cranko als ein Pionier des Tanztheaters avant la lettre (zusammen mit Jürgen Schmidt-Oehm als Op-Artisten – was ist aus dem geworden?) Und dann also „Brouillards“, Jahrgang 1970, drei Jahre vor Crankos Tod. Und wie sehen wir die heute? Als Blätter aus seinem geheimen Tagebuch – diesem Leben zwischen einer überwältigenden Bilder- und Gefühlsfülle und einem streng gestalteten Konstruktionswillen, einem typisch angelsächsischen kauzigen Humor und einer gallebitteren Ernsthaftigkeit, einer hingebungsvollen Liebesbereitschaft und einer tief melancholischen Resignation. Was für ein Leben!

Hatte er zu viel davon? Den Petipa und den Balanchine nebst Ashton, den Robbins und den Tudor obendrein (dieser wundersame Pas de trois „Sur la neige“, der binnen weniger Minuten einen ganzen „Lilac Garden“ ersetzt, und von Sue Jin Kang, Marijn Rademaker und Jirí Jelinek getanzt, für mich den emotionalen Höhepunkt dieses ganzen Abends markierte – wie die zum Leben erweckten Schatten von Birgit Keil, Heinz Clauss und Vladimir Klos). Musste Cranko deswegen so früh sterben? Aber er lebt ja fort, in diesen wunderbaren Tänzern, diesem Kollektiv, genannt Stuttgarter Ballett. Die in diesen Rollen all das ausleben können, was ihnen das wirkliche (?) Leben vielleicht versagt. Heißen sie nun Sue Jin Kang, Katja Wünsche, Alicia Amatriain, Laura O‘Malley oder Anna Osadcenko, beziehungsweise Alexander Zaitsev, Jason Reilly, Douglas Lee, Marijn Rademaker oder Jirí Jelinek (oder ihre leider – aus welchen Gründen auch immer – an dieser Ballettwoche nicht beteiligten Kollegen Maria Eichwald und Friedemann Vogel).

Geradezu mütterlich umsorgt von solchen Crankoschen Nachlassverwalterinnen wie der unverwüstlichen Georgette Tsinguirides (auf meinem ersten Stuttgarter Besetzungszettel vom 2. Januar 1958 noch als damals nicht einmal dreißigjährige Fee Bergkristall in Beriozoffs „Dornröschen“) oder Jane Bourne. Und vergessen wir doch nicht die musikalischen Exorzisten dieses Abends, richtig live mit dabei den zarten Debussy-Beschwörer Glenn Prince, die Zimmermann-Terzettisten Joachim Schall, Jan Pa und Yukiko Sagawara Lachenmann und auch nicht die anonymen, nur elektronisch anwesenden Orchestermusiker in „Jeu de cartes“, das in der Premiere noch vom Generalmusikdirektor Ferdinand Leitner höchstpersönlich dirigiert wurde. Wieviel Leben an diesem Abend, der einem vor einer ganzen Generation Gestorbenen gewidmet war!

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