Klassikerin der Moderne?

Anne Teresa de Keersmaekers „Steve Reich Evening“ beim internationalen Sommerfestival 08 auf Kampnagel

Hamburg, 29/08/2008

Eine Mischung aus älteren und neuen Choreografien fügt Anne Teresa de Keersmaeker in ihrem sechsteiligen „Steve Reich Evening“ zusammen: Ihre Entwicklung über 25 Jahre spiegelt sich wider. Reich erhob die Repetition in „drumming“ und weiteren Kompositionen zum Kompositionsprinzip, durchsetzt mit Stolpermomenten, bei denen die „Minimal Music“ aus dem Ruder zu laufen, das Chaos durch die auseinander strebenden Linien unausbleiblich zu sein scheint – und doch wieder zur Ordnung findet. Ähnlich operiert Keersmaeker, wenn sie meist nur den Bewegungsimpuls aus der Musik aufnimmt, nicht deren genauen Verlauf folgt. Die fünf Stücke von Reich ergänzt ein Opus von György Ligeti – „Poème symphonique pour cent métronomes“, das mit Reichs „Pendulum“ die zwei Teile ohne Tanz, aber mit nichtmenschlicher Bewegung bildet, als Anfang und Zäsur vor dem Finalstück.

„Pendulum“ dient zur Einstimmung: Zwei an langen Seilen hängende Pendel streichen über zwei nach oben offenen Trichtern und erzeugen dabei dunkel klagende Töne in naturgemäß völlig unregelmäßigen Zeitabständen, die manchmal in Überschneidungen münden. Zwei Männer, sitzend rechts und links am Rand der Bühne, betrachten das Schau- und Hörspiel in stoischer Konzentration. Die Zeit dehnt sich lang, verdichtet die Konzentration der Zuschauer - oder lässt sie zerbröseln, je nachdem, wie sie sich darauf einlassen. Meditativ oder nervend oder beides im Wechsel. Schließlich stehen beide Männer auf und einer stoppt die Pendel.

Das Frauenduo in der folgenden „Piano Phase“ (1982) nimmt die Pendelbewegung auf in den erst waagerecht geführten Armen, gekoppelt mit jeweils einer halben Körperdrehung, erweitert sie zu einer Bewegungsfolge, darunter eine kleine Arabesque mit neckisch erhobener Hand, die Arme schlackern hinter den Rücken, werden vor dem Körper erhoben. Grundmaterial zu schwindelerregend unendlicher Repetition. Der synchrone Gang wird hier und da aufgebrochen, indem eine Tänzerin durch minimale Beschleunigung ausschert – und nach einer weiteren Beschleunigung wieder einschert in den gemeinsamen Ablauf.

Der Bühnenraum ist aufgeteilt in drei Hauptphasen: breite Lichtfläche hinten, schmale Lichtbahn in der Mitte, großer Lichtkreis vorn. Sie werden vom Duo nach vorn durchwandert - und wieder zurück. Vier Scheinwerfer – vier Schatten an der Rückwand, eine filigrane, zarte Vervielfältigung der Bewegungen. Zwei Aussetzer der gleichen Tänzerin scheinen den robotorhaften Ablauf menschlich zu durchbrechen - Absicht oder tatsächliches Versehen?!

In Ligetis „Poème“ ticken hundert rote Metronome (wenn’s so viele waren, nachgezählt habe ich nicht), fein säuberlich an der Bühnenrampe aufgebaut, ohne menschliche Beteiligung klacken die Maschinchen. Die unterschiedliche Erschöpfung der Federkraft erzielt ähnliche Effekte wie Steve Reichs „drumming part I“, das unmittelbar darauf folgt: Die reichste, fantasievollste Choreografie des Abends (1997 geschaffen), in der Keersmaeker souverän mit Raumaufteilungen, komplizierten Gruppenverschiebungen, dynamischen Steigerungen spielt, eine lockere und entspannte Stimmung erzeugt. Vielfältige Bewegungserfindung mit Sprungvariationen, Hebungen und Schwenken in der Kleingruppe, einer Art Lauforgie scheinen den acht Frauen und fünf Männern Spaß zu machen, sie treiben sich immer wieder gegenseitig an ohne Verbissenheit oder einer irgendwie sichtbaren Botschaft. Die ließe sich wohl auch kaum herauspulen aus den übrigen Teilen.

Der Tanz ist der Tanz ist der Tanz … „Four Organs“ (fünf Männer) und „Eight Lines“ (sieben Frauen), beide neue Schöpfungen von Keersmaeker, runden das Angebot ab. In Ersterem wandelt eine Person, die eine einfache Figurenfolge absolviert, quer, längs, diagonal über die Bühne bewegt, unberührt vom Geschehen um sich herum. Bis sie zum Ende hin von den Männern bedrängt, gestört, aus dem Rhythmus gebracht wird. Bei „Eight Lines“ gibt es keine Berührungen, jede agiert für sich, man lächelt sich zwischendurch absichtslos an. Mit den Hüften wackeln, Bocksprünge vollführen, gekippte Oberkörper bei Drehungen – beliebig gestreut wirkt der Fundus der wenig eindrucksvollen Choreografien: ein erheblicher Niveauabfall gegenüber „drumming“. Zur Klassikerin der Moderne reicht es bei Keersmaeker wohl nicht.

Sie hat sich mit Rosas ein typenreiches Ensemble mit dünnen, fast molligen, muskulös stämmigen, kleinen, langen Tänzer/Innen geschaffen, die mit stoischer Konzentration die herausfordernden Repetitionen und komplexen Raumformen nachziehen. Dadurch bleibt der Blick wach, auch wenn die Substanz in den 100 Minuten zeitweilig dünn ist. Mag auch nicht die große Bühnen-Persönlichkeit darunter sein, der konzentrierte Einsatz aller besticht dennoch.

 

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