Dem Rhythmus der heutigen Zeit anpassen

Interview mit dem französischen Choreografen Patrice Bart

Paris, 14/08/2009

Bei uns wurde er durch seine Klassiker-Inszenierungen wie „La Bayadère“ in München oder „Schwanensee“ in Berlin bekannt, zuletzt schuf der französische Choreograf im Juni dieses Jahres „Das flammende Herz“ über Percy Bysshe Shelley fürs Berliner Staatsballett. Mit dem ehemaligen Étoile-Tänzer, heute stellvertretender Direktor und Ballettmeister an der Pariser Opéra, sprach Julia Bührle in Paris.

Redaktion: Wie kamen Sie auf die Idee, ein Ballett über das Leben Shelleys zu machen?

Patrice Bart: Diese Idee kam mir, als ich Vladimir Malakhov tanzen sah. Ich finde, dass sowohl seine Persönlichkeit als auch sein Stil perfekt zum Charakter Shelleys passen. Ich habe viel über Shelley gelesen und dabei entdeckt, wie faszinierend er als Person war. Er hatte eine sehr komplexe Beziehung zum Leben und zu den Frauen, er war mit Lord Byron befreundet, der im Alter von dreißig Jahren ertrunken ist – es mangelt also nicht an möglichen Themen für ein Ballett.

Redaktion: Wie haben Sie die Musik ausgewählt und wer kümmert sich um Bühnenbild und Kostüme?

Patrice Bart: Was die Musik angeht, arbeite ich mit dem Dirigenten Ermanno Florio zusammen, wie schon in zwei meiner früheren Produktionen. Für dieses Ballett haben wir an Mendelssohn gedacht, der zur selben Zeit wie Shelley zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelebt hat. Übrigens war Mendelssohn auch der erste Kapellmeister der Staatsoper Berlin! Für Bühnenbild und Kostüme habe ich ein Team, mit dem ich bereits mehrere Produktionen gemacht habe und mit dem ich sehr gerne arbeite: Ezio Toffoluti und Luisa Spinatelli.

Redaktion: Gehen wir über fünfzig Jahre zurück zum Beginn Ihrer Karriere. Wie sind Sie zum Tanz gekommen und was hat Sie an dieser Kunst fasziniert?

Patrice Bart: Am Anfang waren vor allem meine Eltern fasziniert! Sie liebten Theater und Musik und wollten mich schon sehr früh in diese Richtung lenken. Also nahm ich Schauspiel- und Klavierunterricht und auch Tanzstunden. Dabei hat sich herausgestellt, dass ich das meiste Talent für klassisches Ballett hatte. So kam ich also 1957 mit zwölf Jahren in die École de Danse der Pariser Oper. Anfangs wusste ich noch nicht so genau, wo das alles hinführen sollte, aber ich habe schnell gemerkt, dass mir das Ballett entsprach. Im Februar 1960 wurde ich dann mit vierzehn Jahren Mitglied des Corps de ballet.

Redaktion: Was waren die wichtigsten Momente Ihrer Tänzerkarriere?

Patrice Bart: Ich glaube, der wichtigste Moment in meinem Leben war meine Ernennung zum Danseur Étoile. Aber schon davor gab es ein bedeutendes Ereignis, das wahrscheinlich eine Rolle für meine spätere Nominierung gespielt hat: 1969 habe ich zusammen mit meiner Partnerin Francesca Zumbo die Goldmedaille beim ersten Internationalen Ballettwettbewerb in Moskau gewonnen. In der Kategorie Solo gewann Baryshnikow. Drei Jahre später wurde ich zum Danseur Étoile ernannt. Das war damals die Krönung meiner bisherigen Karriere und gleichzeitig ein Neubeginn.

Redaktion: Welche Rollen haben Sie besonders geprägt?

Patrice Bart: Ich hatte das Glück, sehr viel in den großen Klassikern zu tanzen und gleichzeitig mit damals zeitgenössischen Choreografen wie Maurice Béjart, Roland Petit oder Kenneth MacMillan zu arbeiten. Aber das Ballett, das ich wohl am liebsten getanzt habe, war „Giselle“. Ich habe zwei Jahre lang beim London Festival Ballet getanzt und hatte das Glück, während dieser Zeit häufig eine der meiner Meinung nach größten Giselles zur Partnerin zu haben, Elisabetta Terabust. Das war eine großartige Erfahrung.

Redaktion: Deswegen haben Sie selbst gleich drei eigene Versionen des Stückes gemacht…

Patrice Bart: In der Tat – dieses Ballett habe ich wirklich verinnerlicht! Im Gegensatz zu anderen Neufassungen von Klassikern, die ich gemacht habe, bin ich bei „Giselle“ immer sehr nah an Coralli und Perrot geblieben. Ich finde, das Stück ist ein Meisterwerk und es wäre schade, zu sehr daran herumzubasteln. Außer natürlich, man macht etwas ganz Neues daraus, so wie Mats Ek…

Redaktion: Wie kam es zu Ihrer besonderen Verbindung zur Staatsoper Berlin?

Patrice Bart: Das hat 1991 angefangen, als Rudolf Nurejew mich gebeten hat, zusammen mit Patricia Ruanne sein „Dornröschen“ in Berlin einzustudieren. Der damalige Direktor, Martin Puttke, schätzte meine Art, Rudolfs Ballett zu erklären und auf die Bühne zu bringen. Er wollte einen neuen „Don Quixote“ für Berlin und hat mich gefragt, ob ich gerne eine eigene Produktion machen würde – ich hatte so etwas noch nie probiert. Es lief sehr gut und ich wurde danach mit zahlreichen weiteren Produktionen in Berlin beauftragt. Gleichzeitig fing ich an, Ballette für Paris und mehrere andere Städte zu machen.

Redaktion: Sie waren bereits während Ihrer aktiven Tänzerkarriere Ballettmeister und Nurejews Assistent. Wie kam es zu Ihrer besonderen Beziehung zu Nurejew?

Patrice Bart: Das begann ziemlich früh, als ich noch beim London Festival Ballet getanzt habe. Rudolf hatte für diese Truppe seine Ballette „Romeo und Julia“ und „Dornröschen“ geschaffen, und ich habe Mercutio und den Blauen Vogel getanzt. Während der Proben und Vorstellungen ist zwischen uns eine professionelle Beziehung entstanden. Als er Direktor der Pariser Oper wurde, habe ich ihm gesagt, dass ich gerne noch weiter tanzen würde, mich aber gleichzeitig schon in eine andere Richtung orientieren wollte. Rudolf hat sofort eingewilligt und mich beauftragt, sein Ballett „Manfred“ neu einzustudieren. Dafür gab er mir ein Video, auf dem man nur die Hälfte der Bühne sah und meinte, ich solle den Rest nach bestem Wissen zusammenstellen. Er war begeistert vom Ergebnis und bot mir wenig später einen Posten als Ballettmeister an. Von Rudolf habe ich gelernt, wie man eine Produktion macht. Ich habe gelernt, wie man Bühnenbildner und Beleuchter auswählt und wie man ein Stück auf die Bühne bringt.

Redaktion: Wenn Sie versuchen würden, Nurejew in drei Worten zu beschreiben…?

Patrice Bart: Er war außergewöhnlich, sehr schwierig und … besessen! Ich hatte immer eine grenzenlose Bewunderung für ihn, schon als Tänzer. Wie viele andere habe ich ihn entdeckt, als er 1961 nach Paris kam – es war eine Offenbarung. Er war ein Mann des Theaters, intelligent und sehr großzügig. In der Tat war er nicht immer sehr freundlich, aber er machte sich mit Leidenschaft an die Arbeit und hatte die Fähigkeit, die Leute mitzureißen. Auch wenn man nicht seiner Meinung war, ließ er einem keine Wahl: man musste ihm folgen. Und so hat er das Ballett der Pariser Oper zu neuem Leben erweckt. Es gab natürlich immer Probleme, weil er sehr aggressiv war. Die Tänzer waren es nicht gewöhnt, auf so … „stimulierende“ Weise behandelt zu werden! Er forderte sehr viel von den Tänzern, doch gleichzeitig forderte er auch so viel von sich selbst! Jeden Morgen kam er ins Training mit seinem kranken, überall von Schmerzen geplagten Körper – er war ein unglaubliches Beispiel.

Redaktion: Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine neue Fassung eines Klassikers machen? Was ist Ihnen wichtig?

Patrice Bart: Ich denke, dass man mit den großen Klassikern nicht wie mit Museumsstücken umgehen sollte. Meiner Meinung nach hat ein heutiges Publikum keine Lust mehr, eine vierstündige Vorstellung mit drei Pausen zu sehen. Um das Interesse der Zuschauer an diesen Großproduktionen zu bewahren, muss man sie dem Rhythmus der heutigen Zeit anpassen, indem man an den richtigen Stellen kürzt.

Redaktion: Ihre „Coppélia“ beispielsweise entfernt sich auch in Struktur und Inhalt sehr von der Vorlage aus dem 19. Jahrhundert.

Patrice Bart: Das stimmt. Ich mochte „Coppélia“ nie und zufällig war die erste Produktion, mit der mich Brigitte Lefèvre in Paris beauftragt hat, eine neue Fassung von „Coppélia“. Ich beschloss, mich in meiner Version der Erzählung Hoffmanns anzunähern, auf der das Stück basiert, und die sehr dramatisch ist. Besonders hat mich die Figur des Coppelius interessiert – normalerweise ist er im Ballett ein altes Monster, das nicht tanzt, eine echte Karikatur. Ich wollte aus ihm eine mysteriöse Figur machen, die inmitten des Geschehens steht und es lenkt. Da die Musik des Balletts sehr leicht und ohne Dramatik ist, musste ich zusätzlich Musik im Gesamtwerk von Delibes suchen, um dem Ballett eine neue Struktur zu geben.

Redaktion: Was war Ihre Ausgangsidee, als Sie vor zehn Jahren „La Bayadère“ für München geschaffen haben, die man dort am Ende der letzten Spielzeit wieder sehen konnte?

Patrice Bart: Ich wollte den vierten Akt rekonstruieren und gleichzeitig die anderen kürzen, damit es nicht zu lang wird. Das war sehr schwierig, da es sehr wenig Material für den vierten Akt gab – es gab nicht einmal Musik. Die Pianistin Maria Babanina ist in die Archive des Mariinsky gegangen, um Musik zu finden. Es war eine wunderbare Erfahrung zu versuchen, diesen Akt zu rekonstruieren und zu verstehen, wie das damals ausgesehen haben könnte.

Redaktion: Das Ende ist sehr originell: nach dem Zusammenbruch des Palastes des Radscha finden sich die drei Hauptfiguren des Stückes, Nikija, Solor und Gamzatti, in einer Art Paradies vereint…

Patrice Bart: Ja, das war meine Idee. Diese drei Figuren, die sich zu Lebzeiten gegenseitig zerfleischen, finden sich in einem nicht genau definierten Universum wieder, wo sie für immer parallel bleiben. Sie erreichen einander nie wirklich, aber gleichzeitig besteht eine Verbindung zwischen ihnen.

Redaktion: Kurz nach „La Bayadère“ haben Sie Ihr erstes ganz eigenes Ballett gemacht, „Verdiana“.

Patrice Bart: Der Intendant der Staatsoper, Georg Quander, hatte die Idee, ein Ballett über das Leben Verdis zu machen. Ich beschloss, mich auf Verdis Aufenthalte an der Pariser Oper zu beschränken. Als Verdi im 19. Jahrhundert seine Opern in Paris vorgestellt hat, war es Mode, dass jede Oper ein Ballettdivertissement enthielt. Für diese Divertissements musste Verdi zusätzliche Musik komponieren. Ich habe mich also auf Verdi an der Pariser Oper konzentriert, weil er dort den engsten Kontakt zum Ballett hatte.

Redaktion: Und bald darauf haben Sie für die Pariser Oper Ihre „Petite Danseuse de Degas“ kreiert.

Patrice Bart: Auch das war ein Projekt, das Brigitte Lefèvre seit langem realisieren wollte. Das Ballett basiert auf einer wahren Geschichte: die kleine Tänzerin, die für Degas Bronzestatue Modell stand, war Mitglied des Corps de ballet der Pariser Oper. Sie war belgischer Abstammung und hatte eine unmögliche Mutter, die ihre Kinder in die Prostitution trieb… Eine schreckliche Geschichte, die sich an der Pariser Oper abgespielt hat. Übrigens hatte die kleine Tänzerin eine Schwester, die Tanzlehrerin war und zu deren Schülern Yvette Chauviré zählte, eine meiner letzten Lehrerinnen!

Redaktion: Wie würden Sie Ihren Stil als Choreograf definieren?

Patrice Bart: Klassisch mit einer gewissen persönlichen Note. Von Rudolf habe ich unter anderem gelernt, wie wichtig der zeitgenössische Tanz ist für die Atmung sowie für die Art, sich im Raum zu bewegen. Er selbst nützte stets seine Erfahrungen mit dem zeitgenössischen Tanz für seine Neufassungen von Klassikern. Diese Methode hat mich als Choreograf geprägt: ich versuche, meinen Balletten eine besondere Note zu geben, was beispielsweise den Energiefluss und die Musikalität angeht.

Redaktion: Was ist Ihrer Ansicht nach besonders an der Pariser Oper? Und welche Konsequenzen hat die Vielfalt der Stile im Repertoire für die Art, wie die Klassiker getanzt werden?

Patrice Bart: Ich denke, dass die Stärke der Schule der Pariser Oper darin liegt, dass sie eine lange und ununterbrochene Tradition hat. Alle Tänzer der Oper haben den Tanz auf dieselbe Weise gelernt, und das gibt ihnen eine ganz spezielle Färbung. Wir gehören zu den wenigen Truppen weltweit, die ausschließlich aus Tänzern unserer eigenen Schule besteht. Ich denke, die Pariser Oper hat derzeit zwei Missionen: zum einen geht es darum, die Tradition so gut wie möglich zu bewahren – wir haben die wunderbaren Produktionen von Rudolf Nurejew, die wir wie kostbare Schmuckstücke zu bewahren versuchen –, zum anderen öffnen wir uns völlig gegenüber dem zeitgenössischen Tanz. Auf diese Weise eignen sich die Tänzer verschiedene Stile an, was sich später zwangsläufig auf ihre Interpretation der Klassiker auswirkt. Irgendetwas kommt immer unterbewusst zurück. Und das muss meiner Ansicht nach so sein, wenn man die Klassiker lebendig erhalten will.

Redaktion: Was macht Ihrer Meinung nach einen Danseur Étoile aus und wie universell einsetzbar muss er sein?

Patrice Bart: Manche Tänzer sind sehr vielseitig einsetzbar, andere weniger, aber das heißt nicht, dass letztere weniger Talent haben. Ich denke, dass es auch im Interesse eines Kompaniedirektors ist, ein möglichst breitgefächertes Spektrum an Tänzern zu haben und diese bestmöglich in den verschiedenen Stücken einzusetzen. Für einen Danseur Étoile ist meiner Meinung nach das Wichtigste, dass er eine Art Magie hat, das heißt eine Aura, etwas, das man nicht erklären kann und was bei jedem Tänzer anders ist. Wenn jemand nur sehr gut tanzen kann, ist das nicht immer faszinierend. Und ich finde, dass manche Leute gerade durch ihre „Fehler“ interessant werden oder durch ihre etwas seltsamen Eigenheiten – das gibt ihnen ihre Persönlichkeit.

Redaktion: Gibt es Ihrer Ansicht nach zurzeit ein Problem damit, reifere Tänzer einzusetzen?

Patrice Bart: Ja, das ist meiner Meinung nach ein echtes Problem. Ich persönlich finde, dass die Zeit zwischen 30 und 40 Jahren die beste für einen Tänzer ist. In „Giselle“ beispielsweise können meiner Ansicht nach junge Ballerinen nie so gut sein wie solche, die bereits fortgeschrittener in ihrer Tänzerkarriere sind. Momentan herrscht die Tendenz, Rollen zu früh an Tänzer zu vergeben, die sehr gut sind und die man schnell „herausbringen“ will, und manchmal werden diese Rollen nicht genügend verarbeitet. Lebenserfahrung ist sehr wichtig für den Tanz – das, was man im wirklichen Leben erfährt, kommt auf der Bühne zum Vorschein.

Redaktion: Nach Neumeiers „Kameliendame“ vor zwei Jahren wurde kürzlich John Crankos „Onegin“ ins Repertoire der Pariser Oper aufgenommen. Noch ein Ballett, in dem die Tänzer der Kompanie ihr Schauspieltalent entwickeln können…

Patrice Bart:„Onegin“ wollten wir schon lange im Repertoire haben. Ich denke, dass sich durch diese Art von Ballett vor allem die Étoiles unserer Kompanie weiterentwickeln, weil sie darin sehr starke Charaktere verkörpern können; das ist eine außergewöhnliche Erfahrung. Ich glaube, dass Tänzer dadurch Fortschritte machen, dass sie Rollen tanzen, in denen sie wirklich etwas von ihrem Innersten zeigen. Der einzige Charakter des klassischen Balletts, bei dem so etwas geschieht, ist meiner Meinung nach Giselle.

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