Fiktive Rüssel und soziologische Weltwirtschaftsanalysen

Die Uraufführung „Gustav Nachtigal“ von Mirko Hecktor und Tarek Assam, am Wochenende zuvor Auftakt mit „Stop the press!“ von David Finelli

Gießen, 23/05/2010

Schon traditionell gehört zur Gießener Version der TanzArt ostwest, dass eine Woche vorher eine Auftaktveranstaltung stattfindet, an einem außertheatralen Ort, inszeniert von einem Gastchoreographen (finanziert vom Kulturamt Gießen), der in diesem Jahr David Finelli aus Spanien war. Seine Assistentin Melanie Venino unterstützte ihn auch tänzerisch, sie ergänzte den Teil der Gießener Tanzcompagnie, der in den Lagerräumen der Mittelhessischen Druck- und Verlagsanstalt zehn Tage lang die Bespielung des staubigen Ortes zwischen Maschinen und Papierrollen einstudierte. Die Resonanz und der Zuspruch des Publikums waren überwältigend, die Einbeziehung des Publikums in das teils Performance-artige Geschehen war gelungen.

Am Donnerstag vor Pfingsten zeigte dann die Tanzcompagnie Gießen ihre neue, eher experimentell angelegte Produktion „Gustav Nachtigal“ im Theater im Löbershof (TiL). Gerne begibt sich Tanzdirektor Tarek Assam dabei in fremde Welten und immer holt er sich einen Co-Choreografen dazu,– ein bewährtes Verfahren, das frische Impulse fürs Publikum mit sich bringt. Waren es in den vergangenen Jahren eher freundliche Wesen, die er für sein Tanzstück auswählte, wie „Wellensittiche“, „Welt der Engel“ und „Zwerge“, so ging es in diesem Jahr ernster zu.

Die Person Gustav Nachtigal steht für den Beginn des deutschen Kolonialismus in Afrika. Nachtigals Name war zu seiner Zeit allseits bekannt, doch geriet er trotz seiner drei Erinnerungsbücher alsbald in Vergessenheit. Auf das Thema gebracht hat Assam Dr. Georgia Rakelmann, Soziologin an der Gießener Universität, die im vergangenen Jahr mit ihren Studierenden an dem Stadtbespielungsprojekt zur TanzArt dabei war. Als Co-Choreografen hat Assam wieder den Tänzer, Autor und DJ Mirko Hecktor (München) gewonnen, ein Absolvent der Gießener Theaterwissenschaften, der zuletzt 2008 bei „Welt der Engel“ mitgestaltete.

Dass auch einige Klischees zu sehen sein werden, darauf hatte die Frankfurter Dramaturgin Stefanie Fiedler bereits bei der Pressevorstellung hingewiesen. Es kann auch nur darum gehen, unser Bild von Afrika vorzustellen und kritisch zu hinterfragen, so Tarek Assam. Und dieses Bild ist nun mal in der Kolonialzeit entstanden. So werden die Besucher schon beim Betreten des TiL mit dem Geräusch von Wind empfangen, sehen sich einem Regal mit eindrucksvollen Kolonialrequisiten gegenüber und entdecken dann die sechs Tänzer, die sich wie eine Horde Elefanten, den fiktiven Rüssel schwenkend über die Bühnenfläche bewegen. Zum Einstiegsvergnügen in dieses Stück gehören noch weitere Tierdarstellungen wie Affen und Gazellen, besonders apart die sphinxhaft ruhende Leopardin.

Die Gast-Bühnenbildnerin Birgit Kellner hat neben dem variablen Regal noch eine prägende Komponente eingebracht: auf dem Boden ist mit Kreide eine Landkarte aufgemalt, die die Reiseroute von Nachtigal und fremd klingende Ortsnamen zeigt. Die vier Tänzerinnen und zwei Tänzer der Gießener Tanzcompagnie sind in schlichte Kostüme gekleidet, die Assoziationen zum Kolonialstil wecken und entsprechende Farbtöne von Beige bis Braun aufweisen. Auch das Licht ist über weite Strecken in einem stimmungsvollen Sonnenuntergangs-Orange gehalten, gleißendes Sonnenlicht und Gluthitze sind weniger angedeutet.

Dazu kommt der faszinierende Soundmix, für den Hecktor gesorgt hat. Afrikanisch inspirierte Musikstücke, etwa von Rabih Abou-Khalil und DJ Wady, wurden von ihm mit Geräuschsequenzen verbunden, die Parts mit den gesprochenen Texten hat er komplett gesampelt. Die Texte sind zum einen Originalzitate von Gustav Nachtigal, zum anderen soziologische Weltwirtschaftsanalysen. Ein Höhepunkt des Stücks ist das Trio von Hua-Bao Chien, Keith Chin und Ekaterine Giorgadze, das eine solche Analyse auf amüsante Weise mit ganzem Körpereinsatz visualisiert.

Es gibt geheimnisvolle Szenen mit Schwarzafrikanern, die über Masken dargestellt werden, fehlschlagende Versuche der Kommunikation, das Vermessen des unbekannten Territoriums mittels Gerätschaften, das Sammeln von Volkskunst und das Zurschaustellen von Menschen. Hin und wieder ertönt der Kaiserwalzer, schließlich befinden wir uns in der deutschen Kaiserzeit, und es gibt militärische Einlagen. Magdelena Stoyanova, Morgane de Toeuf und Antonia Heß brillieren tänzerisch. Es entstehen ästhetisch zauberhafte Momente, ebenso in eher ruhigen Phasen mit wechselnden Duetten wie in den rhythmisch spritzigen Gruppenszenen.

Es ist auch ein politisches Tanzstück, das zum Nachdenken anregt und darauf aufmerksam macht, dass die damals erforschte Terra Incognita trotz Globalisierung für uns in weiten Teilen immer noch unbekanntes Land ist.

www.stadttheater-giessen.de / www.tanzart-ostwest.de

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