Tolstoi im Dostojewski-Stil

Boris Eifmans „Anna Karenina“ im Pariser Théâtre des Champs Elysées

Paris, 06/12/2010

Das französisch-russische Jahr geht seinem Ende zu, doch gibt es nach dem Gastspiel des Mariinsky-Balletts im Théâtre du Châtelet vor einigen Wochen (zum festlichen Anlass sogar unter dem Dirigentenstab von Valery Gergiev) im Dezember noch zwei russische Ballett-Highlights im Pariser Théâtre des Champs Elysées: ein Gastspiel des Sankt Petersburger Eifman Ballett-Theaters und eine Gala zu Ehren von Maja Plissetskaja am Nikolaustag. Eifmans Kompanie kam mit einer getanzten Fassung eines der russischsten literarischen Werke überhaupt: Anna Karenina, Tolstois Roman um die unvergleichliche Anna, die ihren bornierten Gatten Karenin verlässt, um sich ihrer Leidenschaft für den Offizier Vronski hinzugeben, und die schließlich aus Furcht vor dem Erkalten von Vronskis Liebe in den Tod flüchtet.

Eifmans Interpretation des Tolstoischen Klassikers zeichnet sich vor allem durch höchste Theatralik und Dramatik aus, sowie durch eine ständige Spannung, die die Nerven niemals zur Ruhe kommen lässt – all dies erinnert weniger an Tolstoi als an dessen „Gegenfigur“ Dostojewski. Der langsame Zerfall der Hoffnung in Tolstois Roman wird hier sehr gerafft und abrupt dargestellt, so wie der ganze zweistündige Wirbelsturm der Leidenschaft etwas Brutales hat, das sich vor allem in den akrobatischen Hebungen und Würfen widerspiegelt, die an Eiskunstlauf erinnern und gegen die Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ und MacMillans „Mayerling“ – an den nicht nur die Wirtshausszene mit virtuos tanzenden Offizieren denken lässt – harmlos wirken. Man mag sich fragen, ob diese höchst athletische Vision von Tanz, der zur rhythmischen Sportgymnastik tendiert und bei dem sich die Interpreten so umeinander schlingen und umher werfen, dass man beim Zuschauen oft um ihre Gesundheit bangt, künstlerisch zukunftsweisend ist – mit weniger geübten Tänzern würde die Sache leicht lächerlich wirken.

Dennoch: Eifmans theatralische Rechnung der ständigen Hochspannung geht auf, und das vor allem aufgrund der wirklich exzellenten Interpreten, die die Balance zwischen Kunst und Akrobatik trotz der geradezu übermenschlichen physischen Anstrengung immer noch auf der Seite der Kunst zu halten vermögen. Oleg Markov gibt einen dunklen, verzweifelten Karenin, mehr Opfer als Täter und hilflos in seiner Situation als unglücklich verschmähter Gatte gefangen. Oleg Gabyshev als Vronski beeindruckt nicht nur durch seine außergewöhnliche Biegsamkeit und Sprungkraft, sondern überzeugt auch schauspielerisch in seiner Rolle als von wahrer Liebe getriebener Verführer, der allerdings mit Annas bedingungsloser Leidenschaft auf Dauer nicht umzugehen vermag. Masha Abashova als Anna ist atemberaubend: sie vermag ihren idealen Tänzerkörper in alle möglichen Formen zu schmiegen und dabei stets den richtigen Eindruck von Verwundbarkeit, zarter oder verzehrender Liebe, glücklicher Ekstase oder wachsender Hoffnungslosigkeit bis zur Grenze des Wahnsinns zu vermitteln.

Eifman gelingt es hier, mit überwiegend neoklassischem Bewegungsmaterial gespickt mit Brüchen und Ecken, Fall- und Sinkbewegungen, ab und zu en dedans als Zeichen völliger Entmutigung, die unterschiedlichsten Emotionen überzeugend visuell umzusetzen. Dabei spart er nicht an Symbolik und Leitmotiven – wie Annas Jesusposen – und schießt manchmal auch über das Ziel hinaus, beispielsweise in der Szene, in der Anna „nackt“ zu elektronischer, keuchender Star-Wars-Musik in einen Drogenrausch verfällt, den man für einen Verschnitt von Béjarts „Sacre du Printemps“ halten könnte. Bereits zu Beginn vermisst man etwas die besondere Würde, die Anna laut Tolstoi auszeichnet und die ihren Verfall hier umso tragischer erscheinen ließe. Doch schafft Eifman höchst originelle Bilder und Posen und geht sehr weit in seinen Experimenten mit den Möglichkeiten des menschlichen Körpers. Auch die Musik, hauptsächlich Tschaikowsky, wählt er geschickt und erweist sich sowohl für das Corps de Ballet – beispielsweise in einer Karnevalsszene zur Musik des Finales von Balanchines „Theme and Variations“ – als auch in den zahlreichen Soli und Pas de deux unterschiedlichster Stimmung als solider und einfallsreicher Choreograf.

So kommt keine Minute Langeweile in diesem Stück auf, dessen Dramatik zuweilen überschäumt und das als Umsetzung des Romans fraglich erscheinen kann, das aber als Theaterereignis und eigenständiges Kunstwerk durchaus funktioniert.

Besuchte Vorstellung: 3.12.2010 
 

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