Bestechend, buchstabierend, beklemmend

Drei Choreografen des 20. Jahrhunderts im Pariser Palais Garnier

Paris, 13/12/2010

Was verbindet George Balanchine, Trisha Brown und Pina Bausch, außer dem Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen? Laut Programm der Pariser Oper des Ballettabends „Brown/ Balanchine/ Bausch“ ist es die herausragende Bedeutung der drei Choreografen für die Tanzgeschichte des 20. (und 21.) Jahrhunderts, da sie alle ihr eigenes Bewegungsuniversum schufen. Perfekte Symbiose mit der Musik in neoklassischer Reinheit für Balanchine, schwereloses kosmisches Flimmern für Trisha Brown, Erdgebundenheit und Fließen für Pina Bausch – die Unterschiedlichkeit der Stile wurde durch die Auswahl der Stücke tatsächlich sehr deutlich. Die umfasste Zeitspanne ist ebenfalls breit – wenn auch Trisha Browns Kreation für die Pariser Oper aus dem Jahr 2004 nicht unbedingt moderner wirkt als Balanchines „Apollo“ aus dem Jahr 1928, der hier einmal wieder durch eine völlig neue Besetzung zu neuem Leben erweckt wurde. Mathieu Ganio gab sein Rollendebüt als sehr jugendlicher Apollo – obwohl in der Pariser Version Geburt und Apotheose fehlen, kommt hier klar zum Ausdruck, dass Apollo gerade die Welt entdeckt und erst im Lauf des Balletts an göttlicher Aura gewinnt. Neugierig betrachtet er die um seine Gunst wetteifernden Musen – Emilie Cozette, Myriam Ould-Braham und Nolwenn Daniel – und beginnt dann selbst zu tanzen, probiert Gesten und Sprünge und entdeckt mit Staunen seine Lust an der Bewegung. Dabei gelingt es ihm, die Harmonie zwischen Musik und Tanz sichtbar zu machen, die im Zentrum von Balanchines Werken steht.

Trisha Brown inspirierte sich in „O zlozony / O composite” nicht an der Musik, sondern an zwei Texten, dem polnischen Gedicht Oda do Ptaka (Ode an einen Vogel) von Czeslaw Milosz und dem Gedicht Renascence (Renaissance) von Edna St. Vincent Millay. Nicht nur, dass der Text des ersten Gedichtes in einer recht nervenaufreibenden surrenden und singenden Rezitation in die Musik eingebunden ist, sondern darüber hinaus schafft Trisha Brown regelrechte getanzte Alphabete, um den Text des zweiten Gedichts Buchstabe für Buchstabe auf der Bühne zu visualisieren – was naturgemäß repetitiv wirkt. Interessant sind allerdings die fluiden, mal gravitätischen, mal schwerelosen Soli der exzellenten Interpreten Nicolas Le Riche, Josua Hoffalt und Clairemarie Osta, in denen Kreisbewegungen dominieren. Osta, die abwechselnd auf Spitze und in Schläppchen auftritt, wird dabei mehrmals zum lebenden Satelliten, indem sie in den Armen ihrer Partner vor der Sternenhimmel-Kulisse schwebt.

Pina Bauschs „Sacre du Printemps“ bedeutet einen schmerzhaften Fall vom idealen Olymp und vom schwerelosen Weltraum auf die Erde mit ihren menschlichen Grausamkeiten. Wilfried Romoli, als Gast aus der Rente wieder auf die Bühne des Palais Garnier zurückgerufen, verkörpert hier den unerbittlichen Zeremonienmeister, der nur darauf wartet, zwischen den bebenden und wogenden halbnackten Mädchen ein Opfer auszuwählen, das aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird und sich unter dem Stampfen der Zuschauer zu Tode tanzen muss. Trotz einiger Brüche im Schema wird hier das Männliche in brutaler Härte, das Weibliche als hilflos-opferhaft und zertreten dargestellt – so scheint vor allem das weibliche Corps hier ständig am Rande des Zusammenbruchs. Doch auch die Männer sind oft verstört und agieren ohne wirkliches Bewusstsein – sie tanzen in wilder Ekstase, pulsieren und wälzen sich in der Erde, die den Bühnenboden bedeckt, bis am Ende die ganze Gruppe ein wenig fassungslos dem Todeskampf der „Auserwählten“ zusieht, der als Zeichen ihres Sonderstatus ein blutrotes Opferkleid angelegt wurde. Eleonora Abbagnato scheint diese Ehre keineswegs als solche wahrzunehmen – wie die ganze Gemeinschaft außer dem Zeremonienmeister erschauert sie vor der Furchtbarkeit der Geschehnisse und ist weit davon entfernt, ihre Rolle in bejahender Ekstase zu erfüllen. Stattdessen erlebt der Zuschauer eine grausame Selbsthinrichtung, die auch 35 Jahre nach der Uraufführung nichts von ihrer beklemmenden Wirkung verloren hat.

So hat dieser Abend etwas vom Auszug aus dem olympischen Paradies auf die zerrissene Erde, und doch haben alle drei Ballette noch etwas gemeinsam: den Anspruch der Zeitlosigkeit, dank dem zumindest die zwei älteren der gezeigten Werke bereits auf den Ballettolymp der Klassiker aufgestiegen sind.

Besuchte Vorstellung: 12.12.10

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