Francesco Ciani als Bürgel und Neel Jansen als K
Francesco Ciani als Bürgel und Neel Jansen als K

Köpfe aus Aktendeckeln

Henning Paar choreografiert „Das Schloss“ nach Franz Kafka

München, 29/05/2011

Film, Oper und Schauspiel haben längst Kafkas Romane adaptiert. Ballett und Tanztheater ziehen allmählich nach. 1996/97 brachte Lothar Höfgen in Hannover ein „Kafka Ballett“ heraus, 2009 Jochen Ulrich am Landestheater Linz „Kafka Amerika – ein dramatisches Ballett“ nach dem Romanfragment „Der Verschollene“. Hier in München noch in bester Erinnerung ist Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Kafkas Roman „Der Prozess“ (Münchner Kammerspiele 2008), die mit ihrer Bewegungsdynamik und Bildhaftigkeit schon sehr nah am Tanztheater war. Jetzt hat Hans Henning Paar, Tanzchef am Münchner Gärtnerplatztheater, ein abendfüllendes Kafka-Tanztheater kreiert. Vorlage war der unvollendet gebliebene, 1926 postum veröffentlichte Roman „Das Schloss“. So stürmisch wie sonst jubelte das inzwischen an diesem Haus heimische jugendliche Publikum nach dieser Uraufführung nicht.

Verständlich. „Das Schloss“ ist kein einfacher Stoff. Paar hat es sich zudem nicht leicht gemacht. Und bei der Ehrfurcht vor Kafkas Gehaltfülle, vor seiner Schwerdurchdringlichkeit, waren auch wir ein wenig skeptisch. Aber sobald sich Neel Jansen, zunächst getarnt als Premierenbesucher, über fünf Parkettreihen zur Bühne vorgekämpft hat, ist man positiv gestimmt. Denn Jansen, der erst diese Saison vom Béjart-Ballett ins Münchner Ensemble gewechselt hat, charakterisiert sich in seinem ersten Solo mit technischer Sicherheit und einer sensibel-stillen Ausdruckskraft unmittelbar als dieser Neuankömmling namens K., der in Kafkas rätselhaftem Dorf als Landvermesser Fuß fassen will.

Die Tanz-Handlung, die sich nun entspinnt, hält sich – in groben Zügen – an den Roman und sein Personal. Wer Kafkas „Schloss“ nicht kennt, sollte allerdings vorab eine Inhaltsangabe lesen. Sonst sieht er zwar viel ausgefeilten Tanz – Paars generell zwischen Klassisch, Modern und freien Bewegungen geformter Stil hat hier eine auf internationalem Niveau konkurrenzfähige Form-Reife erlangt –, kann aber die Personen und ihre Soli, Duette und Ensembles nicht einordnen – was, wie Zuschauer äußerten, ermüdend ist. Da sind K.s Gehilfen, die wie Siamesische Zwillinge in einer gemeinsamen Hose stecken (skurril: Hsin-I Huang und Erik Constantin), der freiwillige Schloss-Bote Barnabas (Marc Cloot), seine Schwestern Olga (Audrey Van Herck) und Amalia (Aya Sone), der Schankwirt (Ngoc Khai Vu) und weiteres, den Fremden ablehnendes Dorfvolk. Und da ist schließlich Klamm – charakterstark von Krzysztof Zawadski dargestellt – , der hohe Schlossbeamte. Von ihm erhofft sich K. Zutritt zum Schloss.

K. sieht sich konfrontiert mit einer seltsam überverwalteten, grotesk ineffizienten Obrigkeitsgesellschaft, in der sich Machtverhältnisse auch in den Mann-Frau-Konstellationen spiegeln. Für Choreograf Paar die Chance zu einer Reihe Pas de deux, die sehr klar ganz verschiedene Beziehungen schildern. Der Pas de deux von Klamm und seiner Geliebten Frieda ist pointiert sexuell, fast eine Vergewaltigung. Der folgende zwischen Frieda mit K. entwickelt sich als eine zarte lyrische Liebesbeziehung. Paars Bewegungen, vielfältig, bedeutungstragend, werden von Neel Jansen und der technisch wie dramatisch feinen Caroline Fabre in einem gleichen Atem getanzt. Es ist einer der schönsten Momente des Abends.

Ob diese berührende Liebesbegegnung noch dem Kafka-Original entspricht, sei dahingestellt. Im Roman ist Frieda für K. ja auch ein Mittel, um dem wichtigen Klamm näher zu kommen. Aber Choreograf Paar hat auch in anderer Hinsicht Umdeutungen vorgenommen, eigene Tanzmetaphern erfunden, um den Aspekt der unnahbaren, aber immer dunkel präsenten Schloss-Obrigkeit herauszustellen. Für Paar steht sie ganz allgemein für eine die Existenz bedrohende Bürokratie. Ausstatterin Christl Wein hat ihm da subtil zugearbeitet: An den Bühnenseiten und auf dem Schankwagen stapeln sich dicke Aktenbündel, die später auch von Tänzern knechtisch vorwärts geschoben werden. Kreaturen mit Aktendeckel-Köpfen verfolgen den flüchtenden K. Die Schulklasse aus dem Roman wird hier von einem faschistoiden Lehrer – hervorragend Gianluca Martorella als „brauner“ Einpeitscher – über die Bühne gedrillt. Und von einer hohen Leiter herab leiert eine Tänzerin das Paragraphen-Kauderwelsch des deutschen Ausländergesetzes herunter. Zeichen und Metaphern, dass der Fremde K. wohl kaum in diesem Dorf ansässig werden kann. Dem offenen Ende des Romans entspricht Paar, indem er nach anderthalb Stunden den nächsten K. auf die Bühne klettern lässt – und der Kampf um einen Platz in der Gesellschaft beginnt von vorne.

Kafkas Sprache kann mit Tanz nicht dargestellt werden. Diesen Anspruch hatte Henning Paar auch gar nicht. Was man bemängeln könnte: Paar, der regelbewusste Tanzchef, unterwirft sich der alten, in unserem hyperschnellen Kommunikations- und Multi-Wahrnehmungs-Zeitalter überholten Vorgabe: „abendfüllend“. Ein bisschen kürzer hätte er schon sein dürfen. Dennoch: seine zwischen lyrisch, dynamisch-dramatisch und beklemmend atmosphärisch geschickt ausgewogene Musikdramaturgie (mit Kompositionen von Schostakowitsch, Schnittke, Gorecki, Penderecki und mit diversen zeitgenössischen Klangkulissen), seine Tanzdichte und sein wunderbar tanzendes Ensemble, motiviert begleitet vom Gärtnerplatz-Orchester unter Liviu Petcu, machen den Abend sehenswert – auch ein zweites Mal. Denn mit dem K. von David Valencia, klein, zierlich, allegrohaft „nervös“, als Tänzertyp gerade das Gegenteil von Jansen, könnte der Abend noch einmal ein ganz andere Farbe bekommen.

www.staatstheater-am-gaertnerplatz.de

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