Der Astronom (Alfonso Hierro-Delgado) hat die Planetenbahnen entdeckt.
Der Astronom (Alfonso Hierro-Delgado) hat die Planetenbahnen entdeckt.

Galileo meets Kopernikus

Neues Tanzstück von Tarek Assam mit seiner Tanzcompagnie Gießen

Gießen, 09/10/2011

Das ist ein Männerstück, obwohl mehr Tänzerinnen als Tänzer auf der Bühne sind. Doch bei dem Thema, das Tarek Assam, Ballettdirektor am Stadttheater Gießen, für sein neues Tanzstück gewählt hat, darf das nicht weiter verwundern. „Galileo meets Kopernikus“ lautet der plakative Titel. Die beiden Astronomen sind sich nie begegnet, der eine wurde erst 21 Jahre nach dem Tod des anderen geboren. Zudem lebten sie in unterschiedlichen Gegenden Europas: Nikolaus Kopernikus (1473-1543) war Arzt und Beamter in Preußen und der Mathematiker und Philosoph Galileo Galilei (1564-1642) lebte im katholischen Italien, nahe beim Papst und real bedroht von der Inquisition.

Gemeint ist also der grundlegende Wandel unseres Weltbilds vom geozentrischen zum heliozentrischen, sprich die Erde ist keine Scheibe, sie kreist um die Sonne und nicht umgekehrt. Gemeint ist auch der Kampf zwischen dem Glauben der katholischen Kirche und der aufkommenden Naturwissenschaft im Zeitalter des Kirchenkampfs und der Reformation. Es ist der Kampf zwischen Definitionsmacht qua Tradition und Neudeutung qua Empirie und Forschung. Ein vielschichtiges und abstraktes Thema, für das Tarek Assam mit Unterstützung des Ausstatters Lukas Noll vielfältige Bildsymboliken, vor allem aber eine grandiose Musik gefunden hat.

Der Kontrast macht die verschiedenen Weltsichten akustisch deutlich. Die harmonischen Canzoni für Blechmusiker des venezianischen Kirchenmusikers Giovanni Gabrieli (1557-1612), also ein Zeitgenosse von Kopernikus und Galileo, werden live auf der Bühne gespielt von Mitgliedern des Philharmonischen Orchesters Gießen (Johannes Osswald, Nobuo Tsjui, Kurt Förster, Alexander Schmidt). Das klingt wohl geordnet und ist Hörgenuss pur. Im Gegensatz dazu spiegelt die eingespielte Musik des neuseeländischen Komponisten mit den griechischen Wurzeln John Psathas (*1966) die Komplexität und Unüberschaubarkeit unserer Welt. Das sind abrupte Brüche, pathetische Szenen, wabernde, manchmal unheimliche Klangteppiche, folkloristische Momente und bizarre Jazzeinlagen. Tarek Assam analysiert und zerlegt die Polyrhythmen, akzentuiert die dramatischen Einsätze und nutzt die gesamte Atmosphäre. Diese Choreografie bedient keine Erwartungen, sie hält viele Überraschungen bereit.

Da sind ganz deutliche Elemente wie zu Beginn und am Ende die Astronauten, die Dialoge zwischen dem rechthaberischen Papst, der den Astronomen ausgiebig demütigt. Sven Krautwurst und Alfonso Hierro-Delgado sind ebenbürtige Partner, sind darstellerisch und tänzerisch von beeindruckender Präsenz. Sie agieren auf einer weitgehend leeren Bühne, die optisch von der schrägen Rückwand bestimmt wird: drei ineinander gelegte Kreise lassen zunächst nur Licht durchschimmern, kippen irgendwann in die Waagerechte (Welt ist eine Scheibe) und schaffen eine weitere Projektionsfläche für das Gewölbe der Kirchenkuppel, für die Schreckensvisionen eines Hieronymus Bosch oder für Himmelserscheinungen. Am Ende öffnen sich die Kreise und drehen sich umeinander, symbolisieren das Planetenmodell.

Lukas Noll hat auch die Kostüme kreiert, heutige Alltagskleidung ist die Basis, die mit kleinen, wirkungsvollen Details variiert wird. Die farbenfrohe und bilderreiche Welt der katholischen Kirche bietet reiches Material mit ihren Engeln und Teufeln, Mönchen und Nonnen, Papst und Kreuzritter. Alle sind sie in Rot gekleidet und in rotes Licht getaucht (Manfred Wende). Die Sternbilder sind apart in Weiß gelöst mit kleinen Sternzeichen auf den Köpfen, wobei hier besonders die männlichen Zwillinge mit ihren schlanken Körpern, lockiger Haarpracht und parallelen Bewegungen ins Auge stechen (Christopher Basile und Jeroen Van Acker).

Ein zartes, geschmeidiges Duett des Astronomen mit einer Frau, die zuvor die Angst der Menschen vor Veränderung symbolisierte (Magdalena Stoyanova), dient nach der Demütigung durch Papst und Inquisition der Selbstvergewisserung des Wissenschaftlers. Die Entdeckung, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, die kann er nun mit jemand teilen, der an ihn glaubt. Die Menschen werden freier. Die TCG ist zur Hälfte erneuert, zudem durch Jahresgäste und Eleven auf 15 Tänzer und Tänzerinnen angewachsen. In nur acht Wochen Probenzeit wurden sie zu einem respektablen Ensemble. Außer den bereits Genannten sind noch dabei: Alaina Flores, Ekaterine Giorgadze, Clémentine Herveux, Hsiao-Ting Liao, Sidney Minton Green, Edina Nagy, Mamiko Sakurai, Robina Steyer; Keith Chin, Jeremy Green. „Galileo meets Kopernikus“ ist eine beeindruckende Tanzkreation: inhaltlich, optisch, ästhetisch, musikalisch und tänzerisch.

Die nächsten Vorstellungen: 22.10., 5.11. und 17.11., 22.12.2011

www.stadttheater-giessen.de
www.tanzcompagnie.de

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