Ein Fest für die Ballerina
„Raymonda“ mit dem Mariinsky Ballett im Festspielhaus Baden-Baden
Dem süddeutschen Ballettfan bietet sich derzeit die Gelegenheit, zwei sehr gegensätzliche und dennoch „klassische“ Versionen von Schwanensee zu sehen: John Crankos Stuttgarter Fassung aus dem Jahr 1963/1972 und die Mariinsky-Fassung von Konstantin Sergeyev aus dem Jahr 1950. Beide Inszenierungen sind auf ihre Art reizvoll und gelungen, da sie perfekt den Stil der jeweiligen Kompanie widerspiegeln: Cranko verleiht den Märchenfiguren einen eigenen Charakter und erzählt die unendlich traurige Geschichte eines menschlichen Irrtums, der grausam bestraft wird. Sergeyevs Fassung, ganz im Zeichen des sozialistischen Optimismus, zelebriert die Vollendung der klassischen Form und endet gemäß der damaligen Theaterkonvention mit einem Kampf zwischen Mensch und übermächtigem Unterdrücker, der schließlich vernichtet wird. Sergeyev, der wie Cranko auf die erklärende Pantomime im zweiten Akt verzichtet, geht es weniger um eine schlüssige Dramaturgie als um die gekonnte Verwebung von Gruppentänzen, Charaktertänzen und Soli, in denen auf glanzvolle Weise die hohe Petersburger Tanzkunst zur Schau gestellt wird.
Anders als Crankos von Zweifeln und innerer Entfremdung geplagter Siegfried ist hier der Prinz noch die souveräne Spitze der höfischen Hierarchie, der seine hervorgehobene Stellung durch virtuose Pirouetten und Manèges unter Beweis stellt. Dennoch hat Danila Korsuntsev, ein erfahrener Partner von imposanter Statur und sauberer Technik, hier als Solist und Darsteller nicht sehr viel zu tun – alles dramatische Gewicht liegt auf der Ballerina, der es obliegt, die höchst anspruchsvolle Doppelrolle der lyrischen Odette und der listigen Odile zu tänzerischem Leben zu erwecken.
Wer wäre geeigneter dafür, dieses Feenwesen von nicht mehr menschlicher Grazie darzustellen als Ulyana Lopatkina? Keine andere versteht es, durch feinste Nuancen in der Haltung und Biegung ihrer endlos langen Arme, zarten Handgelenke und expressiven Hände so eloquent von Leid, Freude und Hoffnung zu erzählen, zu locken und zu täuschen, zu bitten und zu vergeben. Königlich und zugleich zerbrechlich, höchst künstlerisch aber weder künstlich noch aufgesetzt, gelingt es Lopatkina, ihre jahrelange Erfahrung mit der bis in die Finger- und Zehenspitzen verinnerlichten Rolle dennoch in einer gewissen Spontaneität aufzulösen, so dass sie die Rolle jedes Mal etwas anders tanzt. Die Petersburger Primaballerina erfüllt das Stück, das bis zu ihrem Auftreten eine glänzend getanzte Abfolge von Tanznummern wie aus einer Ballett-Anthologie ist (erfrischend aufgelockert durch Grigory Popovs Hofnarr, der kreiselnd und scherzend die höfische Geometrie durchbricht), mit der Seele einer einzigartigen Künstlerin.
Wer will angesichts einer solchen Darbietung noch anmerken, dass man sowohl Lopatkina als auch das Mariinsky-Corps de ballet im selben Stück bereits präziser und engagierter gesehen hat, dass der Pas de deux im 3. Akt und die Fouettés nicht durchgehend mit der üblichen Energie dargeboten werden und dass ein paar Misstöne die sonst von Alexei Repnikov wundervoll dirigierte Musik störten? Die Müdigkeit der Reise scheint in dieser Eröffnungsvorstellung den Petersburgern noch etwas in den Knochen zu sitzen, und es besteht gar kein Zweifel daran, dass sich die Kompanie in den nächsten Tagen in ihr gewohntes Niveau hineintanzen wird.
In allerbester Form zeigten sich Gruppe und Solisten (inklusive Konstantin Zverev als Rothbart, der seine langen Beine wie Messer um sich wirft) im besonders reizvollen vierten Akt mit seinen ungewohnten Formationen aus weißen und schwarzen Schwänen. Gewiss könnte man im direkten Vergleich mit der Cranko-Fassung, in der der Choreograph das Problem der fehlenden Pas de deux-Musik durch einen meisterhaften Einschub aus Tschaikowskys Phantasie-Ouvertüre „Hamlet“ löste, den sehr fröhlichen Grundton der Musik in einem Moment beklagen, in dem der Prinz durch seinen Verrat sowohl sich als auch die geliebte Schwanenkönigin dem Verderben preisgegeben hat. Doch mit dem unerwarteten Triumph des Guten endet das Stück in der vollkommen entrückten Märchenhaftigkeit, die es an gelungenen Abenden wie diesem von Anfang an durchzieht. Man ist hier tatsächlich in einer Parallelwelt, in der menschliche Schwäche und Fehlbarkeit anders als später bei Cranko keinen Platz haben. Und diese Vollkommenheit, diese akademische Perfektion, die dennoch nicht kalt und routiniert wirkt, kann noch heute keine Kompanie der Welt überzeugender darstellen als das Mariinsky-Ballett. Sein Corps de ballet aus langgliedrigen, lyrischen Tänzern von kaum zu überbietender Präzision und Eleganz, seine Synchronität und Liebe zum Detail steht immer noch ebenso einzig an der Weltspitze wie Lopatkinas Schwanenkönigin, die es versteht, aus uralter, von zahllosen Rollenvorbildern geprägter Tradition ein mitreißendes Theaterereignis zu machen, das man stets zum ersten Mal zu sehen glaubt.
Mariinsky-Gastspiel noch bis zum 27.12.2011
www.festspielhaus.de
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