„Elle e(s)t moi“ von Jean-Christophe Blavier

Stuttgart, 23/09/1999

Das Stuttgarter Ballett hat seine neue Spielzeit mit der Uraufführung des halbstündigen „Elle e(s)t moi“ von Jean-Christophe Blavier eröffnet. Es wurde mit höflichem Applaus aufgenommen. Eigentlich hätten die Voraussetzungen für einen großen Erfolg kaum besser sein können: Das Publikum durch die Sommerpause hungrig nach Tanz, als Protagonisten die einzigartige, legendäre Marcia Haydée und der Weltstar Vladimir Malakhov, als literarische Vorlage Honoré de Balzacs Roman "Die Lilie im Tal" über die so beglückende wie schmerzliche Liebe zwischen einer alten Frau und einem Jüngling.

Aber was sich schon durch Blaviers katastrophalen, abendfüllenden Langweiler "Out of Silence" mit Haydée, José Luis Sultán und Giora Feidman bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen des vergangenen Jahres angekündigt hatte, das ist jetzt zur Gewissheit geworden - der ehemalige Tänzer des Stuttgarter Balletts kann wohl gefällige Revuenummern für sexy gekleidete Tänzerkörper arrangieren, zum Gestalter tief schürfender Dramen fehlt ihm hingegen das Zeug.

Die vielgeliebte Marcia Haydée verplempert ihr Comeback durch Blaviers Schuld mit künstlerischem Flitterkram. Jordi Roig hat die leere Bühne des Kleinen Hauses schmucklos gelassen, im Hintergrund ist undeutlich eine Gangway zu erkennen (Malakhov tanzt anfangs mit einer Pilotenkappe auf dem Kopf), später kommen ein weißes Sofa und ein pastellfarbiger Vorhang hinzu, die Haydée trägt zunächst ein gewaltiges rotes Kleid und danach einen Kimono. Auf tritt Malakhov und irrt hampelnd, drehend und springend auf der Suche nach dem Sinn des Lebens umher. Dann kommt die alte Frau hinzu und fährt sich bedeutungsvollen Blicks minutenlang mit den Fingern durchs tiefschwarze Haar. Das haut den Jüngling selbstverständlich um, er schleppt Blumen herbei, verstreut sie dekorativ auf der Bühne, man liebt sich, er wird schweren Herzens fort ins Leben geschickt, dreht und springt dort erneut sehr schnell und hoch, kehrt zurück, und sie stirbt in seinen Armen.

Unnötig, alles aufzuzählen, wo wir das schon viel besser und origineller gesehen haben, wo überall sich Blavier seine choreografischen Versatzstücke zusammengeklaubt hat. Asiatisch kolorierte Musik von Alfred Schnittke und Roderick Vanderstraeten, des charmanten Malakhovs brillante Technik und Haydées brennende Augen werden's schon richten. Sie haben es nicht getan. Es hat nicht einmal für ein Fiasko gereicht. Für Künstler gibt es kaum etwas Deprimierenderes als höflichen Applaus. Dieses lustlose Klatschen, weil man die verehrte Marcia und den vergötterten Wolodja doch nicht nach nur einem Vorhang in die Garderoben schicken kann, dieses sich wieder und wieder verbeugen vor einem Publikum, das früher vor Begeisterung geschrien hat - und alle wissen, was los ist...

Schon vor der Pause war Blaviers choreografisch geringfügig überarbeitetem Hochglanz-Ballett „E=mc2“ aus der vergangenen Spielzeit eher flau applaudiert worden. Aber als zum Schluss des Abends das dynamische „dos amores“ von Christian Spuck zwischen den schwingenden, metallenen Pendeln über die Bühne fauchte, mit dem der junge Stuttgarter Corpstänzer im Februar enormen Erfolg hatte, da brach ein Jubel los und ein rhythmisches Klatschen, das Blavier und seinen beiden Stars wie Höllenmusik in den Ohren geklungen haben muss. Beklommen blicken wir dem 1. Oktober entgegen, an dem Marcia Haydée im Stuttgarter Theaterhaus an der Seite von Ismael Ivo eine weitere Uraufführung tanzen wird: „Tristan und Isolde“.

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