Das Detail ist das verkleinerte Ganze

Wanda Golonkas „Fraktale“ im Münchner Marstall

München, 26/10/1999

Der Ast eines Baumes mit seinen Verästelungen entspricht in seiner Struktur der des Baumes, dessen Teil er ist. Oder die berühmten Apfelmännchen von Benoit Mandelbrot: Der Mathematiker fand in den rauen Rändern eines Apfelmännchens unendlich viele Apfelmännchen, ihrer selbst ähnlich, gebildet aus ständiger Repetition. Aus der Unregelmäßigkeit der Bruchstücke formt sich die Regel und mit ihr das sich selbst dynamisierende Modell einer fraktalen Welt, in der auch noch das Chaos seine Ordnung hat. Darstellbar ist das nur in Erzählungen, über Metaphern und per computergenerierten Bildern. Der Rest, der bleibt, besteht aus dem Problem der Vergegenwärtigung, dem von Ursache und Wirkung und dem der Identität. Ganz zu schweigen von Abweichungen und Unschärfen.

„Fraktale“ nennt Wanda Golonka ihre zweite in Residenz am Marstall geschaffene Produktion für die Tänzerin Marcela San Pedro, den Tänzer Ralf Kittler, den Schauspieler Frédéric Leidgens und die vierköpfige Rock-Band Stereobugs aus Frankfurt. Anfangs gehen alle zusammen im Gleichschritt über den sandigen Untergrund und spielen über Zuruf ein verbales Schiffe-Versenken. Irgendwann schert einer aus, dreht sich um und reiht sich rückwärts in die Gruppe ein. Nacheinander folgen die anderen. Ein Hopser, eine Kniebeuge, eine leichte Richtungsverschiebung im Raum. Zehn Minuten lang. Es ist das Spiel von regelhafter Konstruktion und individueller Abweichung, wie man es von Wanda Golonkas letzter Produktion „Feld“ kennt.

Dann wechseln die Musiker zu ihren Instrumenten auf der einen Seite der Bühne, die Tänzerin und der Schauspieler bleiben unbewegt stehen. Los geht's: laut und - sozusagen - fraktalös. Denn während die E-Gitarren jammern und der Beat angepunkt wummert, wechselt das Licht (Design: Frank Kaster) ins Graue, beleuchtet seitlich von unten den Sand, so dass die Abdrücke, die die Marschierer hinterlassen haben, in ihrem Raummuster plastisch hervortreten. Die Tänzerin bringt den lesenden Schauspieler zu Fall und richtet ihn wieder auf, als der Song vorüber ist, stellen die Musiker auf Autopiloten um und kommen auf die Tanzfläche, um die Fall-und-Aufricht-Bewegungen des Paares zu wiederholen. Der Schauspieler liest auf französisch Texte von Samuel Beckett und auf deutsch etwas von Adalbert Stifter. Die Tänzerin lehnt sich leicht an den Tänzer und löst langsam ihren Haarknoten. Die Musiker gehen ein Muster im Kreis und sagen Sätze wie „Ich möchte ihr nicht das Gefühl geben, dass sie sich an mich lehnen kann“ oder zitieren in Bruchstücken Stifters „Es ist das kleinste Sandkorn ein Wunder, das wir nicht ergründen können …“.

Jede Aktion auf der Bühne scheint an ihren Rändern ihre Fortsetzung zu generieren. Manchmal wiederholen sich die Formen, dann wieder die sprachlichen Bemühungen, Erinnerungen, Empfindungen, Gefühle, das Nicht-Greifbare sich zu vergegenwärtigen. Changierend zwischen Klarheit und Dunkel. „Fraktale“ erscheint wie eine Reflexion über Gestalt und Gestaltlosigkeit, über das Anwesende und das Abwesende. Musikalisch auch dargestellt durch die unvermittelte brutale Stille nach den lauten Takes. Und nicht immer hilft die Lösung Rudyard Kiplings weiter, wenn man etwas nicht sehen und deswegen seinen Sinnen nicht trauen und nicht verstehen kann, von der Frederic Leidgens erzählt: einfach auf dem Kopf des Problems sitzen zu bleiben.

Nach denn Soli („Gegnung“ und „Objet inquiétant“) und dem Duett „Feld“, die Wanda Golonka nach ihrer Lösung von der Gruppe Neuer Tanz geschaffen hat, ist „Fraktale“ das erste Gruppenstück und das erste, in dem sie Fragmente einer Paarbeziehung darstellt. Wie in „Feld“ lösen sich strenge Formen in lässiger Formlosigkeit auf, sind hier aber permanent, rauer und dramatischer inszeniert: Monochrome, grandios ausgeleuchtete und sehr emotionale Bilder entstehen, deren Unvorhersehbarkeit ebenso fasziniert wie ihre Stimmung. Ihr Timing. Die Akteure wiederholen Alltagsbewegungen, vergrößern und rhythmisieren sie. Der Tanz kulminiert in einem höchst eindrucksvollen, langen Solo von Marcela San Pedro: Zunächst mit dem Rücken zum Publikum, konzentriert sich ihre ganze Körperspannung nach innen. Vorwärtsdrängend und doch am Platz bleibend, stößt sie breitbeinig und kraftvoll die Kappen ihrer Turnschuhe in den Sand, bäumt sich fast auf dabei. Danach das Abspannen: Sie liegen im Sand. Gegenseitig streuen sie sich Grasbüschel und Herbstlaub um die Konturen ihrer Körper oder legen das Wort „Lust“, bilden so neue Formen. Ein letzter verhaltener Song. „Come and entertain me“; hieß es vorher. Das ist das mindeste, was „Fraktale“ leistet.

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