Ein furioser Auftakt

Mit „Nijinsky Epilog“ eröffnete das Hamburg Ballett seine Jubliäums-Spielzeit – und am Horizont ziehen dunkle Wolken auf.

Hamburg, 17/09/2012

Es war nichts wirklich Neues, was John Neumeier zum Auftakt der Spielzeit zum 40-jährigen Jubiläum des Hamburg Ballett auf den Plan gesetzt hatte. „Nijinsky-Epilog“, das ist ein zweiteiliger Abend aus „Le Pavillon d’Armide“ und „Le Sacre du Printemps“. Beides Wiederaufnahmen – das eine aus 2009, das andere („Sacre“) aus 1975. Und gerade in dieser Kombination doch etwas sehr Besonderes.

Der „Pavillon d’Armide“ ist nach „Nijinsky“, das dessen künstlerische und persönliche Entwicklung beleuchtet, gewissermaßen die Fortsetzung Neumeiers biographischer Reminiszenz an den großen Tänzer und Choreografen: Es zeigt Vaslaw Nijinskys Einlieferung in eine Nervenheilanstalt, wo er sich an seine Jugend und auch an seine aktive Zeit als Tänzer und Choreograf erinnert. Im Mittelpunkt steht dabei das historische „Le Pavillon d’Armide“, mit dem Nijinskys kometenhafte Karriere Anfang des 20. Jahrhunderts begann. Neumeier ließ sich hier für den zentralen Pas de Trois von einer Rekonstruktion von Alexandra Danilowa aus 1975 inspirieren.

Otto Bubenicek brilliert hier einmal mehr als Nijinsky – sprunggewaltig, ausdrucksstark, und mit einer Hingabe an diese Rolle, die ihresgleichen sucht, er verschmilzt förmlich mit der Figur. Großartig auch Anna Polikarpova als Romola, Nijinskys Frau. Phänomenal, wie sie die innere Zerrissenheit dieser Frau zum Ausdruck bringt: ihr Erbarmen und Mitleiden, aber auch ihre Abscheu, ihr Befremden über die geistige Verwirrung ihres Mannes. Bestechend ihre Eleganz als Armide im mittleren Teil des Stücks, wenn Nijinsky sich an seine legendäre Auftritte mit den Ballets Russes erinnert. Thiago Bordin brilliert in einer der Paraderollen Nijinskys: dem „Danse Siamoise“. Keiner kann diese fließende Eleganz, diese biegsame Sinnlichkeit so umsetzen wie er. Ivan Urban fasziniert als Nijinskys Arzt, vor allem aber als dämonisch-herrischer und doch zärtlich-hingegebener Serge Diaghilew – kaum vorstellbar, diese Rolle in einer anderen Besetzung zu sehen als mit ihm. Alexandre Riabko zeigt stilsicher einsame Klasse als Nijinsky in dem Armide-Pas de Trois. An seiner Seite als Ballets-Russes-Ballerinen Hélène Bouchet (Tamara Karsawina) und Leslie Heylmann (Alexandra Baldina).

Insgesamt haben die Ballettmeister hier bewundernswerte Arbeit geleistet – musste sich die Kompanie das Stück doch mehr oder weniger innerhalb einer Woche wieder aneignen, und das nach einem anstrengenden und kräftezehrenden Australien-Gastspiel. Ein so schwieriges Stück innerhalb so kurzer Zeit auf so hohem Niveau auf die Bühne zu bringen, verlangt höchsten Respekt.

In „Hommage aux Ballets Russes“, das 2009/2010 auf dem Spielplan stand, hatte Neumeier den „Pavillon d’Armide“ mit der Rekonstruktion von Nijinskys „Sacre“ kombiniert, jetzt komplettiert er den Abend mit seinem eigenen „Sacre“. Und es ist schon erstaunlich, wie modern und zeitgemäß diese Arbeit nach wie vor ist. Neumeier schuf das Stück noch in Frankfurt im Herbst 1972, und er thematisiert hier weniger das archaisch-heidnische Frühlingsopfer, als vielmehr die Ereignisse des gesellschaftlichen Umbruchs rund um die Studentenrevolte 1968. Das hat nichts von seiner fesselnden Stimmung, von seiner Intensität und Wucht verloren.

Patricia Tichy tanzt das große Solo der Auserwählten am Schluss, das als eine Art Verzweiflungstanz gelten kann, als fulminanter Ausdruck der Verstörung, der Agonie, der Selbstzerstörung. Und sie tanzt das mit einer solchen Hingabe, dass es im Saal, der zu Beginn des Stücks noch von zahllosen störenden Hustern erfüllt war, schlagartig mucksmäuschenstill wird. Da war er wieder, dieser magische Moment, wenn durch die Selbstentäußerung eines Künstlers – hier einer Tänzerin – der ganze große Theaterraum ein einziges gemeinsames Atmen ist.

Die Hamburger Philharmoniker spielten das „Sacre“ allerdings leider nicht mit der Brillanz und der bezwingenden Dynamik, die dieses Stück ausmachen, und auch nicht mit der zarten Lyrik, die ihm innewohnt. Noch ärgerlicher war die Leistung des Orchesters bzw. seines Dirigenten Christoph Eberle im ersten Teil des Abends, als die Musik von Nikolai Tscherepnin immer wieder aus den Fugen geriet. Offenbar hatte der Eberle kaum Augen für die Bühne – was gerade bei so einem komplizierten Werk aber unabdingbar ist, wenn Tanz und Musik zu einer Einheit verschmelzen sollen.

Noch ärgerlicher ist jedoch vor diesem Hintergrund die Absicht der Hamburger Kulturpolitik, die allfälligen Tariferhöhungen bei den Löhnen und Gehältern der Theater-MitarbeiterInnen finanziell nicht ausgleichen zu wollen. Schon im Sommer hatte John Neumeier diesen Notstand öffentlich gemacht, war aber auf wenig Gehör gestoßen. Bis heute liegt keine Zusage für diesen Kostenausgleich vor. Angesichts dessen, dass das Hamburg Ballett mit 98% eine in der Theaterlandschaft sicher einmalige Auslastung seiner Vorstellungen vorzuweisen hat, dass es darüber hinaus ein weltweit gefeierter Kulturbotschafter für die Hansestadt ist, darf man das schon als ausgewachsenen Skandal bezeichnen. Er müsse 10-12 TänzerInnenstellen einsparen, wenn es keinen Ausgleich seitens der Stadt gebe, hatte Neumeier angekündigt – und wollte das keineswegs als leere Drohung verstanden wissen. Wenn die Stadt, die bei der Elbphilharmonie nun wahrlich nicht knauserig ist, hier nicht schnellstmöglich eine Kostenübernahmegarantie erteilt, wäre Hamburg um eine ihrer wichtigsten Attraktionen ärmer. Und es ist anzunehmen, dass Neumeier dann auch seine Werke, über deren uneingeschränkte Rechte er verfügt, nicht mehr der Hansestadt zur Verfügung stellen wird. Schon gar nicht seine kostbare Sammlung. Die Kultursenatorin wäre gut beraten, hier möglichst bald ein eindeutiges Signal zu setzen.

 

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