WA „Dornröschen“ Stuttgart

Choreografie und Inszenierung: Marcia Haydée, Ausstattung: Jürgen Rose

Stuttgart, 20/07/2000

Auf den Tag genau vier Jahre, nachdem sich Marcia Haydée am Ende einer turbulenten Vorstellung ihrer „Dornröschen“-Choreografie auf den Rücksitz des Motorrades ihres Gatten geschwungen hatte und von der Bühne des Stuttgarter Opernhauses in einen neuen Lebensabschnitt gebraust war, feierte diese Inszenierung eine triumphale Wiederkehr auf eben dieser Bühne. Sie hat nichts von ihrer suggestiven Bildkraft, dramaturgischen Stringenz und tänzerischen Noblesse eingebüßt. Eher im Gegenteil. Von ihr selbst und der kompletten Ballettmeister-Riege der Stuttgarter Truppe neu einstudiert und auf Hochglanz gewienert, gehört dieses „Dornröschen“ nach wie vor zum Besten und Modernsten, was es überhaupt an klassischem Tanz zu sehen gibt.

Und wieder markiert diese Aufführung einen schmerzlichen Abschied. Ivan Cavallari, der mit seinem Debüt als böse Fee Carabosse seine große Tänzerlaufbahn beendet, hat in dieser Partie zweifellos die Rolle seines Lebens gefunden. Spitznasig zischt er wie ein tanzendes Rasiermesser durch den entsetzten Hofstaat, sein diabolischer Charme, seine perfide Lust am Bösen strahlen aus diesem porzellanenen Hexengesicht, dass einem kalte Schauer den Rücken herablaufen. Einer der liebenswürdigsten Solisten des Stuttgarter Balletts als irrlichternder Nachtmahr – eine Sensation.

Sein Widerpart, die Fliederfee, wird von Bridget Breiner getanzt, die für diese Partie eine ideale Besetzung ist. Mit ihrer seriösen Autorität, ihren großrahmigen, weit schwingenden, eleganten Motionen und ihrer fabelhaften Balance erfüllt die junge Solistin auch beinahe alle Erwartungen. Allerdings gelingen ihr noch nicht alle Übergänge mit jenem organischen Fluss, der eigentlich zu ihrem tänzerischen Wesen gehört.

Aber das wird spätestens in der zweiten Vorstellung behoben sein. Das Bühnenbild hat zwar seit der Premiere vor dreizehn Jahren etwas gelitten, aber im Verein mit seiner unvergleichlichen Kostümpracht steigert sich Jürgen Roses Ausstattung im Laufe des Abends wieder zu einem grandiosen, sinnenverwirrenden Farbenfurioso, das in seinen spektakulärsten Momenten die Bühne vor den Augen verschwimmen lässt. Die Truppe tanzt, als wäre sie nicht am Ende einer überaus kräftezehrenden Saison, sondern geradenwegs einem Jungbrunnen entsprungen. Schon die Feen im Prolog sind eine köstlicher als die andere. Alicia Amatriain (Schönheit), mit langen Beinen ruhige Muster zeichnend, Wirbelwind Patricia Salgado (Klugheit), die souveräne Sebnem Gülseker (Anmut), Elena Tentschikowa als flirrende Beredsamkeit, und die wie unter Starkstrom agierende Diana Martinez Morales (Kraft) sind Ballerinen von hohen Graden.

Ihre Begleiter stehen ihnen mit ihren synchronen und federleicht zelebrierten Aktionen in nichts nach. Ein Ereignis auch die vier sich aufplusternden, aufeinander eifersüchtigen Prinzen Douglas Lee, Ivan Gil Ortega, Ibrahim Önal und Filip Barankiewicz, denen endlich etwas zu tanzen und vor allem ausgeprägte Charaktere gegeben zu haben, eines der wichtigsten Verdienste von Haydées Inszenierung ist. Die Aufführung blitzt und blinkt an allen Ecken und Enden.

Jede und jeder im Corps ist ganz bei der Sache, nicht ein Blick, der nicht am Geschehen hinge. Selbst heikle Szenen wie der in den meisten Inszenierungen so öde Walzer im zweiten Akt, eine der choreografischen Großtaten der Produktion, überzeugt mit seinem tänzerischen Gleichklang und seiner fröhlichen Lebendigkeit. Ein Genuss auch, den sechs bildhübschen Freundinnen Auroras zuzuschauen.

Abgesehen vom vortrefflichen Christian Fallanga (Catalabutte), der noch einmal als Gast zurückgekehrt ist, hat nur Julia Krämer ihre Partie bereits früher getanzt. Aber welche Entwicklung hat ihre Aurora seither genommen! Die Stuttgarterin, mit Auftrittsapplaus begrüßt, ist eine junge, liebreizende Prinzessin von edelstem Geblüt, die ihren makellosen und leichtfüßigen Tanz mit einem glücklichen Lächeln krönt, den nervenaufreibenden Prüfstein Rosenadagio mit sicherer Balance meistert – James Tuggle am Pult passt auf wie ein Luchs – , in der Waldszene körperlos wie eine Elfe schwebt und im Grand Pas de deux aristokratische Ballerinenallüre verströmt.

Nun ist ihr in Robert Tewsley aber auch ein feuriger Prinz beschert worden, wie er eigentlich nur in Märchen vorkommt. Schon in seiner Vision stichelt und fliegt er mit Verve akkurateste Sprünge, die er, wie auch seine blitzschnellen „double tours“, ausnahmslos perfekt in der fünften Position beendet, als wäre nichts leichter als das. Und im Grand Pas deux ist Tewsley nicht nur ein vollkommener Partner, sondern er knallt seine Variationen mit einer Brillanz hin, die nichts weniger als atemberaubend ist.

Wie sie da im dritten Akt alle losstieben, die entzückenden sieben Zwerge aus der John-Cranko-Schule und Schneewittchen Sandra Gnjatovic mit ihrem Gesicht wie Milch und Blut, der stürmische Held der Ballettlüfte Alexander Zaitsev (Ali Baba) und seine vier funkelnden Edelsteine, Eric Gauthier als verstörter gestiefelter Kater mit dem hübschen Kätzchen Katja Wünsche, das süße Rotkäppchen Marieke Lieber und der wild grabschende Wolf Rolando d‘Alesio, schließlich der picobello battierende Blaue Vogel Thomas Lempertz mit seiner exquisiten, zartgliedrigen Prinzessin Ivanna Illyenko – das Stuttgarter Ballett hat seinem Publikum ein „Dornröschen“ beschert, wegen der komplett neu formierten Compagnie ist dies eher eine Erstaufführung, als eine Wiederaufnahme, wie es sich märchenhafter, fantasievoller und animierender kaum denken lässt.

James Tuggle, schon die Ouvertüre lässt keinen Zweifel daran, dass er um einen flotten Fortgang bemüht sein wird, führt das Staatsorchester über die gesamte Aufführungsdauer straff, tempisicher und spart nicht bei den Tutti. Ein Lob den Blechbläsern, die zwar nicht immer schön, aber doch präzise intonieren: Jedes vorsorgliche Zusammenzucken erweist sich als unbegründet.

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