„Don Quijote“

Stuttgart, 09/12/2000

Schon während der Aufführung hatte es immer wieder mit Bravorufen gemischten, heftigen Szenenapplaus gegeben, und nach ihr brach ein Beifallssturm los, der an die großen Zeiten des Stuttgarter Balletts erinnerte. Damit steht fest, was sowieso zu erwarten war: In Maximiliano Guerras Neufassung des Ballettklassikers „Don Quijote“ nach dem Roman von Miguel de Cervantes hat die Compagnie einen weiteren Bestseller in ihren Repertoire. Selbstverständlich waren schon lange vor der Premiere sämtliche Vorstellungen ausverkauft. Der Argentinier Guerra, von Hause aus einer der berühmtesten internationalen Tanzstars, hatte für sein Debüt als Choreograf versprochen, die heute gängige, dramaturgisch höchst fragwürdige Moskauer Version von Marius Petipa aus dem Jahre 1869 so gründlich zu überarbeiten, dass Cervantes und seinem Romanhelden „ihre Würde zurückgegeben“ werde. Das ist ihm wenigstens insoweit gelungen, als dass er die Titelfigur und ihren Diener Sancho Pansa nicht mehr als Tölpel auftreten lässt. Und auch sein Einfall hat etwas für sich, die Geschichte in der Fantasie von Cervantes spielen zu lassen, der Don Quijote als sein Alter Ego empfindet und am Ende des Stückes mit dem Schreiben des Buches beginnt.

Aber darüber hinaus hält sich Guerra so eng an Petipas Libretto, das eigentlich nur die heitere Story des amourösen Hindernislaufs der Liebenden Kitri und Basilio erzählt, dass es dreist anmutet, sich allein Inszenierung und Choreografie zuzuschreiben, zumal Petipa sozusagen in jedem zweiten Schritt, wenn nicht sogar häufiger, erkennbar ist. Überhaupt wäre wohl niemand erstaunt gewesen, wenn auf dem Besetzungszettel gestanden hätte, dass dies eine Wiederaufnahme aus dem Jahre 1960 sei. Alles an der Produktion ist altbacken. Der nervend hampelnde Vater des Alexander Khmelnitzki, der Zappelfatzke Camacho, eine absolute Nicht-Rolle, zu der (nach dem Alain in der „Fille“) schon wieder der arme Thomas Lempertz verurteilt ist, der ganze Slapstick-Kram der diversen Prügeleien und der Vorstellung im Zigeunerlager – Guerra bedient sich ungeniert aus dem vermoderten Ballettkomödien-Fundus.

Es gibt einige hübsche Einfälle, Cervantes‘ Romanfiguren zum Beispiel, die aus den Büchern quellen und die Muse Dulcinea (Alicia Amatriain), die des Dichters Eingebung wie weiland in Fokines „Spectre de la rose“ entfacht. Aber im Grunde besteht das Stück, wie gehabt, weitgehend aus handlungslosem Tanz.

Auch die knallbunte Bühnenpracht von Ramón B. Ivars, dessen Bibliothekssaal, in dem sich alles abspielt, großen Eindruck macht, schaut ganz und gar nicht nach einer modernen Version, sondern eher nach einer uralten, überladenen Ausstattungsrevue aus. Und die Idee, Quijotes wahrlich überflüssige Dryaden-Vision vor einfach auf die Bühne gestellten Spiegeln tanzen zu lassen, ruft ein Desaster hervor: Was im Film „Chorus Line“ eine imponierende Vertausendfachung der Tänzer bewirkt, zeigt hier ein Bild zerhackter, ziel- und harmonielos umherirrender Körper.

Dennoch ist der Abend sehenswert, über weite Strecken sogar mitreißend, denn er wird grandios getanzt. Von Guerra selbst als Basilio, dessen Sprung- und Drehkaskaden (bei denen er zuweilen mauschelt) atemberaubend sind, von Elena Tentschikowa als Kitri, deren lupenreine, starke, nicht zu erschütternde Technik bewundernswert, die aber, bei allem schönen Spiel, keine Tanzsoubrette und deshalb nicht die ideale Besetzung ist. Roland Vogel als knorrig-edler Cervantes/Quichote, dem Guerra in seiner Charakterisierungsnot einen Bandscheibenvorfall verpasst hat, geht als Ehrfurcht heischende Autorität durch das Stück, und Rolando d‘Alesio ist ein sympathischer Sancho Pansa. Die porzellanene Schönheit von Ivanna Illyenko als Dryade, Roberta Fernandes‘ rassige Straßentänzerin, der wuchtige Matador von Robert Conn und vor allem das Corps mit seiner schmissigen Präzision, namentlich die Herren Toreros, rufen ein ums andere Mal Entzücken hervor.

Weil die Stuttgarter Devise neuerdings „Nicht kleckern – klotzen!“ heißt, hat die Ballettdirektion binnen einer Woche zwei Alternativbesetzungen sämtlicher Solopartien nachgeschoben. Die erweisen sich durchweg als Glücksfälle, machen das Stück von Aufführung zu Aufführung besser und geben damit, sozusagen als Retourkutsche, dem Choreografen Guerra seine Würde zurück. Zunächst Julia Krämer und Ivan Gil Ortega in den Hauptrollen, ein emanzipiertes, durchaus charmantes und heftig flirtendes Paar. Die Sensation aber sind die blutjungen Patricia Salgado und Filip Barankiewicz. Was bei der Premiere purer Liebes-Slapstick war, das ist bei ihnen von köstlichem Humor befeuert, erotisch und erfrischend. Da fliegen die Blicke und die Hände, sogar Salgados Füße scheinen zu lächeln, da rauschen zwei Herzen zusammen, dass die Funken bis in den dritten Rang stieben. Und sie tanzen, dass die Fetzen fliegen – das Publikum schreit seine Bravos mitten in Kitris Pirouetten und Basilios himmelstürmende Flüge. Ja, es sind die Tänzer, die aus Stuttgarts neuem, altem Ballett-Schinken ein Theatererlebnis machen.

So weit, so gut oder schlecht. Das Stuttgarter Ballett, immerhin eine mit vielen Steuermillionen subventionierte Institution und deshalb doch wenigstens in Ansätzen zum Wagemut verpflichtet, beweist diesen nur damit, dass es sich (ungelogen!) leisten zu können glaubt, von Mitte April 2000 bis Anfang Februar 2001 ausschließlich (!) abendfüllende Handlungsballette zu tanzen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

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