Balanchine und seine Nachfolger

Die Herbstsaison des New York City Ballet im Lincoln Center

New York, 23/10/2012

Nach der gelungenen Eröffnung der Ballettsaison der Pariser Oper mit einem Balanchine-Ballettabend schien es geboten, Balanchine wieder einmal aus der Quelle zu trinken. Die Herbstsaison des New York City Ballet im von Philip Johnson nach Balanchines Anweisungen ausgestatteten David H. Koch-Theater bot umfassende Gelegenheit, bekannte und in Europa seltener gespielte Werke des Kompaniegründers zu sehen. Zu letzteren gehörte das Schwarzweiß-Duo „Monumentum pro Gesualdo“ und „Movements for Piano and Orchestra“, die beide aus der sehr fruchtbaren Kooperation zwischen Balanchine und Igor Stravinsky hervorgegangen sind. Das erste Stück konzipierte Stravinsky als Hommage an Don Carlo Gesualdo, einen italienischen Fürsten und Komponisten des 16. Jahrhunderts, und Balanchine greift das Thema in seiner eleganten Choreografie durch einige Anklänge an höfische Tänze auf. Im zweiten Werk, das Stravinsky selbst als sichtbaren Ausdruck seiner Musik lobte, experimentierte Balanchine wie so oft mit den Möglichkeiten des – vor allem weiblichen – Körpers und schuf einige einprägsame Bewegungen für das Corps de Ballet, unter anderem Trippeln auf Spitze mit seitlich ausgestreckten Armen und Grands Pliés à la seconde auf Spitze.

Eine weitere Rarität des Repertoires war „Danses Concertantes“, dem man angesichts der Balanchine-untypischen Farbenpracht der an Karneval und Joker erinnernden Kostüme und des mit einer Leier geschmückten Bühnenvorhangs (beides Eugene Berman) seine Verbindung zu den Ballets Russes ansah, für die der Choreograf es 1944 schuf – auch wenn er es 1972 völlig überarbeitete.

Zu den Standardwerken der New Yorker Kompanie zählt Balanchines „Duo Concertant“, ebenfalls zu Stravinsky-Musik. Dieser Pas de deux, der vor einigen Jahren anlässlich der NYCB-Tournee in Paris zu sehen war, wurde von Sterling Hyltin und Robert Fairchild reizvoll dargeboten. Das Stück beginnt als Konzert, dem Tänzer und Zuschauer gebannt lauschen, und die Tänzer ziehen sich immer wieder respektvoll hinter das Klavier zurück, damit sich die Musik ungestört entfalten kann. Alsbald jedoch beginnen sie, mit präzise auszirkulierten Bewegungen auf die Musik zu experimentieren. Diese werden weicher und schneller, bis das Spiel schließlich in eine leidenschaftlichere Stimmung umschlägt, die das Ballett beinahe narrativ erscheinen lässt. Zum Schluss trifft sich das Paar in einem Lichtkreis, der jeweils nur Teile ihrer Körper sichtbar werden lässt, bevor sie zu einem Bild völliger Harmonie verschmelzen.

Daneben gab es Stücke, die in Ballettkompanien weltweit zu den absoluten Standardwerken gehören und direkte Vergleiche mit Balanchine in anderen Ensembles wie Paris oder London erlaubten, beispielsweise „Apollo“, „Agon“ oder „Symphony in C“. Dabei fiel einmal mehr auf, dass die Stärke von Mr. B’s Truppe nicht in der Synchronität und nicht immer in der Präzision liegt. Dafür zeichnet sich das NYCB durch ein einzigartiges Tempo und eine Dynamik und musikalische Akzentsetzungen aus, die den NYCB-Balanchine unverwechselbar machen. In zwei „Symphony in C“-Vorstellungen brillierten im virtuosen Fach besonders Megan Fairchild und Andrew Veyette im ersten Satz sowie Erica Pereira, Joaquin de Luz und der im letzten Moment für einen Kollegen eingesprungene Antonio Carmena im dritten Satz. Die exquisite Maria Kowroski bewies hingegen allergrößte Beherrschung und Exaktheit im zweiten Satz, der in New York schneller und weniger lyrisch dargeboten wird als in vielen europäischen Kompanien.

Außer Balanchine war in der Herbstsaison auch der zweite choreografische Gigant der Kompanie vertreten: Jerome Robbins. Neben seinem romantischen Pas de deux „Andantino“ zu Tschaikovsky-Musik gab es unter anderem sein beunruhigendes Stravinsky-Ballett „The Cage“. In diesem thematisch an den 2. Akt von „Giselle“ erinnernden Stück interpretierte Sterling Hyltin mit Fingerspitzengefühl die Novizin im Reich der männermordenden Insekten. Im Laufe eines Pas de deux, in dem die beinage schmerzvolle gegenseitige Faszination der beiden fremdartigen Wesen spürbar wird, verliebt sie sich in ihr zweites Opfer, muss es aber dennoch auf Geheiß ihrer Artgenossinen töten. Robbins findet erstaunlich glaubhafte Gesten und Posen für die spinnenähnlichen, trotz ihrer Zerbrechlichkeit unerbittlichen Kreaturen.

In „Moves“ hingegen wagte Robbins 1959 das Experiment, ein halbstündiges Ballett ohne Musik zu choreografieren, um die volle Konzentration auf die Bewegung zu lenken. Einiges erinnert an Gymnastik oder Balletttraining, beispielsweise die ausführlichen Dehnübungen der Tänzer und das Klappern der Spitzenschuhe, das die einzige musikalische Begleitung darstellt und damit die Aufmerksamkeit auf die Entstehungsbedingungen des Bühnenwerkes lenkt. Die Stärke des Stückes liegt an der ungezwungenen, gemeinschaftlichen Atmosphäre und in den originellen choreografischen Formationen – wie beispielsweise kurze Pas de deux zwischen zwei Männern oder zwei Frauen im Hintergrund, wobei jeweils eine(r) die traditionell dem anderen Geschlecht zugeordnete Rolle übernimmt.

Erwähnenswert sind schließlich auch zwei dieses Jahr im NYCB entstandenen Kreationen, die in der Herbstsaison zu sehen waren: Das im Januar uraufgeführte „Les Carillons“ des etablierten „Resident Choreographer“ Christopher Wheeldon und die Weltpremiere von „Year of the Rabbit“ des choreografisch noch recht unerfahrenen Corps de Ballet-Tänzers Justin Peck. Die Sensation war dabei weniger Wheeldons dekorative, etwas zusammenhanglos auf Bizets dramatisch expressiven „Arlésienne“-Suiten sitzende Choreografie, sondern Justin Pecks verspieltes Werk zu Musik von Sufjan Stevens. Zu Pecks Markenzeichen gehören unter anderem gewagte Würfe, Tänzerinnen, die wie Bowlingkugeln über die Bühne geschoben werden sowie auf dem Boden liegend ausgeführte Tanzposen. Peck erwies sich mit diesem Stück als vielversprechendes Talent, von dem man in Zukunft gewiss noch hören wird.

www.nycballet.com

 

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