"Carlotta's Portrait", "The Cage", "The Vertiginous...", "Poème..."

Die Prüfung der lächelnden Zauberwesen

Stuttgart, 27/04/2001

Vor drei Jahren „Approximate Sonata“, nun „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ – das Stuttgarter Ballett scheint nach und nach William Forsythes komplettes Frankfurter Programm „Six Counter Points“ aus dem Jahre 1996 übernehmen zu wollen. Und das bekommt der Truppe bestens. Kann sie mit Stücken dieses Kalibers doch ihren Ruf untermauern, Deutschlands technisch versierteste Compagnie zu sein. Überdies ist die jüngste Stuttgarter Premiere ein großer Wurf, eine gelungene Mischung aus Tradition und Zukunft, Schulung des Publikums und vor allem begeisterndem Tanz.

Ob Forsythes „Schwindelerregender Schauer der Genauigkeit“ zum Allegro vivace aus Schuberts C-Dur-Sinfonie nur eine Parodie des neoklassischen Balletts seines Vorbildes George Balanchine ist, wie oft vermutet wird, darüber ließe sich trefflich streiten. Auf alle Fälle ist es ein augenkitzelndes Tanzprestissimo allerfeinster Provenienz, in dem Sue Jin Kang, Julia Krämer, Elena Tentschikowa, Robert Tewsley und Eric Gauthier nimmermüde spitzelnd, drehend und mit kleinen, flinken Sprüngen über die Bühne flitzen, als würden sie ihre Energie nicht aus ihren eigenen Körpern, sondern direkt aus den elektrisierenden Orchesterklängen speisen. Möglicherweise hält man ihnen ja während ihrer kurzen Abgänge Sauerstoffmasken vor die Gesichter – aber wenn sie tanzen, dann wirken sie wie lächelnde Zauberwesen, denen man nicht anmerkt, dass sie gerade die womöglich härteste Prüfung ihrer Karriere durchstehen. Chapeau!

Zuvor die Erstaufführung von Jerome Robbins „The Cage“ aus dem Jahre 1951. Ob es Ballettchef Reid Anderson wohl schwer gefallen ist, dieses Stück gegen die Frauenbeauftragte der Staatstheater durchzusetzen? Unter dem Vorwand, ein biologisches Phänomen zu schildern, dass es nämlich bei zahlreichen Insektenarten üblich ist, dass die Weibchen nach dem Geschlechtsakt die Männchen töten, zeigt Robbins das Los der Männer in einer Frauenwelt. Eine sich entpuppende „Anfängerin“ (Bridget Breiner) tötet angeekelt und rücksichtslos den ersten Mann, der ihr begegnet, entwickelt sich weiter und geht mit dem zweiten (Robert Conn) eine leidenschaftliche Beziehung ein. Doch die Horde ihrer wuschelköpfigen Geschlechtsgenossinnen zwingt sie, auch diesen Mann zu ermorden. Erst jetzt ist sie eine richtige, bewusste Frau.

Robbins' bizarre, krakelig gleitende Insektenchoreografie ist so befremdlich faszinierend, ihre Verschmelzung mit Strawinskys Streicherkonzert in D so genial, dass sie moderner gar nicht sein könnte. Insofern also ein eminenter Gewinn für Stuttgart.

Aber das wirkliche Ereignis ist Bridget Breiner, so oft schon entdeckt und jetzt wieder ganz neu – eine dramatische Ballerina von hohen Graden, ein Körper, dessen unendlich lange Vorder- und Hinterbeine sengende Signale senden, deren köstliche Bewegungen so beredt sind, wie die Ausdruckskraft ihres Gesichtes. Glückliches Stuttgart, das eine komplexe Künstlerin dieses bewundernswerten Formats genießen kann!

Wie würde neben all dem die Wiederaufnahme von John Crankos „Poème de l'extase“ (1970) bestehen können? Man mag es nicht gerne zugeben, aber die Jahre sind ihm anzumerken. Doch es ist auf eine liebenswürdige Art gealtert. Seine Leidenschaft ist geblieben, Crankos delikate, artifizielle Choreografie, mit der er die Bilder Gustav Klimts hat Tanz werden lassen, seine Sympathie für die alternde Schöne (Yseult Lendvai) und den Jüngling (Robert Tewsley), der vergeblich gegen ihre Erinnerungen Robert Conn, Alexander Zaitsev, Thomas Lempertz und Jason Reilly anrennt. Wenn auch die Kostüme modernisiert wurden, die Visionen sind jetzt (nach Crankos ursprünglichem Wunsch) beinahe nackt, der Jüngling trägt ein einfaches, weißes Hemd – Alexander Skrjabins „musikalischer Orgasmus“ wird auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses zu einer wehmütigen Erinnerung. Freilich blendend getanzt und vor allem gespielt: Das Staatsorchester unter James Tuggle war an diesem Abend überhaupt in großer Form.

Am Beginn des Programms stand die Uraufführung „Carlotta's Portrait“ von Christian Spuck. Es ist schon verblüffend, welchen technischen, beleuchtungstechnischen (Andreas Rinkes) und inszenatorischen Aufwand ein Choreograf unserer Zeit glaubt treiben zu müssen, um eine Irritation zu erzeugen, wie sie etwa in „The Cage“ mit ganz bescheidenen Mitteln gelingt. Spucks Werk lehnt sich an das Motiv der fraglichen Identität aus Hitchcocks berühmtem Film „Vertigo“. Yseult Lendvai wandert und rennt (mit einem hässlichen Mikrofon vor dem Mund) im Filmkostüm über die Bühne und zitiert in Englisch aus den Drehbuchanweisungen und den Dialogen, hinter sich häufig verschiebenden, schwarzen Wänden tauchen für kurze Zeit tanzende Paare auf, Menschen (offenbar im Fallen begriffen = James Stewarts Film-Höhenangst) schweben bewegungslos im Dunkel, und immer wieder jagt der brillante Friedemann Vogel auf der Suche nach Carlotta dahin, die auch nach einem schwungvollen Pas de deux mit Lendvai naturgemäß erfolglos bleibt. Das ist ein perfekt inszeniertes und sophisticated beleuchtetes, verstörendes Filmballett aus gekonnten Schnitten, Totalen und virtuos eingesetzten Closeups, zu dem Anton Weberns 6 Stücke für großes Orchester op. 6, unterbrochen von Bernard Herrmanns Vertigo-Musik die Geräusche liefern. Christian Spuck ist, nach drei munteren Stücken, offenbar wieder in seine ursprüngliche Welt der Finsternis zurück gekehrt.

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