"Back to Bach", "Diada", "Short Ride", "La Luna"

Das Beste kommt von außen

Karlsruhe, 28/04/2001

Es ist sicher kein Zuckerschlecken, zur gleichen Zeit zwei Compagnien mit neuen Stücken zu versorgen, wie es gegenwärtig Pierre Wyss tun muss, der noch in Braunschweig und schon in Karlsruhe Ballettchef ist. Deshalb sollte die jüngste Premiere „Time Changes“ im Karlsruher Kleinen Haus mit vier Erstaufführungen über die Entwicklungen des Tanzes Generalpardon genießen – sie ist wohl als eine Art Notprogramm anzusehen. Aber so groß wird die Not doch hoffentlich nicht sein, dass Wyss den Abend ausgerechnet mit einer seiner schwächsten Arbeiten eröffnen musste.

Doch vielleicht sieht er das ganz anders. Denn in seinen Erläuterungen zu „Back to Bach“ schreibt er von der Notwendigkeit, dass auch ein „Tanzkunstwerk… auf allen Ebenen möglichst vollkommen“ sein sollte und bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Qualität von Bachs Musik.

Aber wie er seine vier Paare, an ihrer Spitze Lisi Grether als Braunschweiger Leihgabe und Mateusz Kowalek, zu Cembalomusik von Bach klassisch beginnen, dann unter albernem Grimassieren und mit peinlich-komischem Gehampel die Tutus abstreifen und belanglos neoklassisch weitermachen lässt, das ist, wenn schon der Begriff „vollkommen“ im Spiel ist, vollkommen misslungen. Zumal gerade diese Choreografie, und das macht ihre Verwendung vollends unverständlich, die technischen Defizite der Karlsruher schonungslos offenbart.

„Diada“ von Raul Valdez, er ist Tänzer in Braunschweig, zeigt Kowalek und Hans Komorowski zu Zbigniew Preisners hollywoodesker Musik als zwei Seelen in der Brust eines Menschen, die miteinander im Widerstreit liegen und nach Ablehnen, Erschrecken, Angst und Nachgeben schließlich zu einem Ganzen werde. Ein seriöser, eindringlich wirkender Pas de deux ohne exaltierte Aktionen, der ein wenig an „My Way“ von Stephan Thoss erinnert.

Das mit Abstand beste Stück des Abends steuerte Jean Renshaw bei, die sich mit ihrer Aufbauarbeit beim Tanzwerk Nürnberger bundesweit Achtung erworben hat. Ihr „Short Ride“ für dreizehn Damen und Herren in bein- und armlosen, schwarzen Trikots ist eine wundervoll harmonische Folge und Kombination von Soli, Duos und Ensembleaktionen, die John Adams' schnell nervend leiernde Musik wie ein Meer nutzt, auf dessen Wellenschlag sie mühelos voran surft. Dieser athletische Bewegungsfluss der weit ausholenden Gliedmaßen, der schwingenden Hebungen und natürlichen Reaktionen auf die Anregungen der Klänge ist von außerordentlichem ästhetischem Reiz. Pierre Wyss sollte diese so immens individuell schaffende Choreografin unbedingt an sein Haus binden.

Am Ende entschädigt das gut halbstündige „La Luna“ von Wyss ein wenig für den ärgerlichen Auftakt des Abends. Das ist ein Stück, das in einer psychiatrischen Anstalt handeln könnte. Elf Menschen in weißer Unterwäsche hausen lethargisch zwischen Polstermöbeln aus den Sechzigern. Sie schütteln sich zu lateinamerikanischer Musik unterschiedlicher Urheber ihre Frustrationen, Hoffnungen und unvermittelt aufsteigenden Aggressionen aus den Leibern, hocken sich in den offenen Kühlschrank, starren vor sich hin, ab und zu stürzt jemand von außen herein und weckt die Insassen etwas auf, die aber bald wieder in ihrem Autismus versinken. Außer jenen selbstverständlich, die gerade tanzen. Wyss hat hier eine schöne und zeitweilig rührende Verbindung zwischen Tristesse und attraktiv ausschauender Tanzlust gefunden, die seine Tänzer überdies in sehr gutem Licht zeigt, zumal die einfallsreiche Choreografie durchaus ihre Meriten hat. Wenn er sich nun noch dazu entschließen könnte, das Stück leicht zu straffen, dann hätte „La Luna“ eine gute Chance auf ein langes Leben in Karlsruhe.

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