Eine poetische Erinnerungscollage

Antje Pfundtners entfremdete „Nussknacker“-Version in der Hamburger Kampnagelfabrik

Hamburg, 17/12/2012

Vorweg: Die Angst Antje Pfundtners, die Besucher der Vorstellung könnten enttäuscht sein, weil sie die traditionelle Geschichte der kleinen Klara sehen wollen, wie sie in einem Gespräch mit Irmela Kästner für die „Welt am Sonntag“ gestand, war unbegründet. Dieser so ganz andere „Nussknacker“ der Hamburger Choreografin gab den Zuschauern zwar durchaus so manche Nuss zu knacken, bezauberte aber durch eine subtile Poesie – sowohl im Tanz wie vor allem auch in Musik, Ausstattung (Sabine Kohlstedt und Yvonne Marcour) und Licht (Michael Lentner). Für die Musik arbeitete Pfundtner mit dem Komponisten Sven Kacirek zusammen, der Tschaikowskys eingängige Klänge zu einer Collage für Vibraphon, Klavier, Marimba und Schlagwerk verarbeitet hat (und dies mit Hilfe einer spannenden Video-Installation im Foyer anschaulich machte). Herausgekommen ist eine zurückhaltende, respektvolle Annäherung an Tschaikowsky, die sehr gut zu der teils melancholischen, aber auch zärtlichen Erinnerung passt, die das gesamte Stück bestimmt.

Zu Beginn tritt Antje Pfundtner selbst vor den raumhohen schwarzen Vorhang, der die Bühne vom Zuschauerraum der K6 trennt. Sie erzählt von ihrer Erinnerung an den Adventskranz in ihrer Familie, von dem Geplänkel mit ihrem Bruder – Dinge, die jeder von uns kennt und mit eigenen Erinnerungen verbindet. Sie wirft einen ausgestopften Raben, den sie zuvor auf der Hand trug, jemandem in der 1. Reihe zu, wendet sich um und teilt dann den großen, sich jetzt öffnenden schwarzen Vorhang. Sichtbar wird ein zweiter solcher Vorhang, der unmittelbar darauf zu Boden fällt. Im Zurückgehen zieht Pfundtner diesen Vorhang wie einen langen Rock hinter sich her – die Last, aber auch die Schönheit der Vergangenheit. Der Blick öffnet sich auf eine große, von hinten durchleuchtete riesige Wand voller Tüllballen in Bonbonfarben. Aus einer Pyramide aus bunten Weihnachtskugeln am rechten Bühnenrand schält sich ein Tänzer. Hinter einem Ballen bunter Tütüs und allerlei Kostümen auf der linken Seite krabbelt ein weiterer Tänzer hervor, und so kommen insgesamt vier Frauen und vier Männer auf die Bühne. Und der Reigen beginnt.

Ein Reigen, der immer wieder Gesten aus dem traditionellen „Nussknacker“ aufgreift, aber jede klassische Pose sofort wieder bricht und vermischt mit den jeweils individuellen Assoziationen der neun hervorragenden Tänzerinnen und Tänzer (neben Antje Pfundtner selbst tanzen Jenny Beyer, Verena Brakonier, Dani Brown, Francis Christeller, Michael Hess, Matthew Rogers, Regina Rossi und David Vossen) und natürlich mit denen der Choreografin selbst. Dazu beigetragen hat auch ein Workshop, den Pfundtner im November mit der ehemaligen Hamburger Ersten Solistin Heather Jurgensen (heute Ballettdirektion Kiel) für ihre TänzerInnen organisierte. Jurgensen hat 13 Jahre lang allweihnachtlich die Primaballerina Louise in John Neumeiers Version des „Nussknackers“ getanzt, und wer diesen Part kennt, sieht immer wieder winzige Parallelen aufblitzen in Pfundtners Choreografie, wie kleine Sternschnuppen der Erinnerung.

Und so lässt Antje Pfundtner Erinnerung wie Gegenwart gleichermaßen atmen, gibt dem einen wie dem anderen seinen Raum, ohne sich aber je anzubiedern. Sie entwickelt ihre ganz eigene, bodennahe Bewegungssprache, mit immer wieder gekrümmten Körperhaltungen, aber auch mit harmonischen Bewegungsfolgen. Sie spielt mit dem Tüll der Tütüs, und einer der Höhepunkte ist zweifellos, wenn sich alle neun TänzerInnen in verschiedene phantasievolle bunte Kostüme werfen und mit dem Rücken zu den Zuschauern auf der Bühne nach hinten schlurfen, dabei kuriose Laute ausstoßend, die an das Gezwitscher, Geflöte und Gekrähe von Urwaldvögeln erinnern. Das ist ebenso lustig und beklemmend und phantastisch.

Der Clou ist aber dann der Überraschungsauftritt eines Laienchores am Schluss, wenn alle neun TänzerInnen nach vorne an den Bühnenrand treten und gleichzeitig aus dem Publikum nach und nach an verschiedenen Stellen Menschen aufstehen und zu tönen beginnen. Sie greifen Tonsequenzen der Musik auf und folgen ihnen mit der Stimme, während die TänzerInnen langsam, sehr langsam rückwärts gehen, zu gleichzeitig verlöschendem Licht. Wie verzaubert lauschen und schauen hier die Zuschauer, und es entsteht ganz von selbst eine innige Stimmung, in der jeder seinen eigenen Erinnerungen nachhängen kann.

Antje Pfundtner hat hier zu einer wunderbaren Poesie gefunden und durchaus selbst einen Klassiker des Tanztheaters geschaffen. Es wäre zu wünschen, dass dieses Stück allweihnachtlich aufgeführt werden könnte – gewissermaßen als Kontrapunkt zu den Vorstellungen der klassischen Version (alljährlich kommt das russische Staatsballett dafür ins Hamburger CCH) bzw. der neoklassischen Version John Neumeiers (die dieses Jahr zugunsten von „Illusionen – wie Schwanensee“ ausfällt).

 

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