Es gibt nur wenige Choreografen von Weltgeltung, die Strawinskys Meisterwerk „Le Sacre du Printemps“ nicht vertanzt haben, angefangen beim legendären Vaslaw Nijinsky über Mary Wigman, Maurice Béjart, Pina Bausch bis zu John Neumeier, um nur die Wichtigsten zu nennen. Sie alle erzählen die Geschichte des legendären Frühlingsopfers, das auserwählt wird, sein Leben zu geben, damit der Frühling kommen und die Erde wieder fruchtbar werden kann.
Nun hat der Franzose Laurent Chétouane das Stück aufgegriffen – allerdings nicht im Sinne einer Darstellung dieser Opfergeschichte. Er will nichts erzählen, er will das Stück selbst ad absurdum führen, indem er keine Handlung einbaut, keinen Sinn, keine Dramaturgie, keinen Spannungsbogen. Chétouane ist von Haus aus Ingenieur und Theaterwissenschaftler, erst seit 2006 choreografiert er auch (z. B. „Tanzstücke #1 - #4“, „Hommage an das Zaudern“, „Bildbeschreibung von Heiner Müller“, „Horizon(s)“). „Sacré Sacre du Printemps“ ist ein Stück für vier Tänzerinnen und drei Tänzer, das sich grob in fünf oder streng genommen sogar sechs Teile gliedern lässt – der Musik folgend. Den Anfang macht nicht Strawinsky, sondern eine Komposition von Leo Schmidthals, dem Bassisten der Hamburger Rockband „Selig“. Es ist eine eher ruhige, getragene Percussion-Musik, die sich unaufgeregt ins Ohr schleicht, gefolgt von einer lautlosen Pause, bis dann die Sacre-Musik einsetzt, in einer historischen Aufnahme mit dem New York Philharmonic Orchestra, dirigiert von Strawinsky selbst. Nach etwa zwei Drittel bricht die Musik ab, es folgt wieder eine stille Phase, bis der letzte Teil des Sacre erklingt, gefolgt von noch einmal Schmidthals.
Die sieben Tänzer schieben sich zu dieser Musik oder auch während der stillen Teile – in schwarze Bermudashorts und dunkle T-Shirts gekleidet – auf anthrazitfarbenen Socken über die bis auf drei weiße Leinwandflächen leere Bühne. Auf diese Leinwände werden Seenlandschaften projiziert, die aber eher Beiwerk sind, für die Wahrnehmung des Stückes sind sie weitgehend unwesentlich. Die Tänzer bewegen sich unabhängig voneinander nebeneinander her, jeder für sich, einsam, den leeren Blick in weite Fernen gerichtet, hin und wieder auch mal direkt ins Publikum. Die Gesichter sind teilweise grotesk geschminkt – eine hat den Mund dick schwarz ummalt, eine andere den Hals blau gefärbt, ein dritter komische Augenbrauen gezogen, eine vierte rote Bäckchen aufgetupft... Die Mimik spiegelt Teilnahmslosigkeit, Langeweile, Befremden, Angewidertsein, während sich die Bewegungssprache ständig wiederholt. Sie besteht vor allem aus ausgebreiteten, schöpfenden, wedelnden Armen, unmotiviertem Hüpfen, Springen, Schlurfen, Schleichen. Nach einiger Zeit finden auch Begegnungen statt zwischen den Tänzern, nehmen sie Verbindung auf miteinander, aber meist nur flüchtig. Zwischendurch treten sie ganz dicht an den Zuschauerblock heran, den Mund geöffnet, der Blick geht direkt in die Menge, fragend, herausfordernd, auffordernd. Es ist ein kontinuierliches Hin und Her auf dem Tanzboden, ohne dass man weiß, wieso und warum oder wozu.
Chétouane hat wohl genau das beabsichtigt. „Man schaut nicht mehr dem Fremden auf der Bühne zu, sondern das Fremde schaut uns an“, schreibt er in einem Brief an die Kampnagel-Tanzdramaturgin Leonie Otto. Und weiter: „Ich versuche, auf der Bühne choreografische Formen zu entwickeln, die nichts darstellen, sondern etwas zur Existenz bringen, etwas, das nur in dieser Veräußerlichung erlebbar wird.“ In ihrer Einführung vor dem Stück sagte Leonie Otto, Chétouane verlange von seinen Tänzern, „dass sie ihre Bewegungen aus der Energie des Publikums schöpfen“, und man möge doch bitte offen sein für diese Begegnung.
Am 1. Februar war das Publikum offenbar nicht so offen. Jedenfalls verpufften die Versuche der Tänzer, Kontakt aufzunehmen, mehr oder weniger im Nichts. Da gab es keine wahrnehmbare Spannung, keinen Austausch. Es war ein seltsam fremdes Wabern zu einer wunderbaren Musik, der man besser mit geschlossenen Augen lauschte. Denn die Langeweile, die die Tänzer ausstrahlten, ist unter solchen Voraussetzungen ja letztlich dem Publikum anzulasten, das offenbar zu wenig Energien ausgestrahlt hat. Mit dieser intellektualistischen Verfremdung des Tanzes macht es sich Laurent Chétouane aber doch ein bisschen zu einfach. Und er opfert damit nicht nur abstrakt das Stück „Sacre du Printemps“, sondern den Tanz generell.
Eine weitere Vorstellung am 2. Februar um 20 Uhr, Kampnagel-Fabrik Hamburg. Einführungsgespräch um 19.30 Uhr, im Anschluss an die Vorstellung Publikumsgespräch mit Laurent Chétouane. Karten unter www.kampnagel.de oder telefonisch unter 040-270 949-49 (13-19 Uhr).
Außerdem gibt es noch um 15 Uhr ein Symposium zur Arbeit von Laurent Chétouane „Unter dem Blick des Fremden“ in der K3.
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