Nach reiflicher Überlegung
Martin Schläpfer zum neuen Direktor des Wiener Staatsballetts berufen
Keith Harings Graffitti-Figuren trotzen Brahms' „lieblichem Ungeheuer“
Martin Schläpfer erreicht mit der Choreografie auf die 2. Sinfonie von Johannes Brahms einen neuen Gipfel seiner Kunst. Verblüffender Weise kommen seine genialen Tanzbilder zu dem romantischen Tongemälde über, als habe er diesen Giganten bei allem spürbaren Perfektionismus mühelos erklommen. Wie viele scheiterten nicht schon an dem schwerblütigsten deutschen Sinfoniker, der seine über weite Strecken so pastoral heiter klingende Komposition selbst ein „liebliches Ungeheuer“ nannte. Schläpfers Ballett − transparent begleitet von den Duisburger Philharmonikern unter Axel Kober − aber verfolgt der Zuschauer mit atemloser Spannung, amüsiert und hochkonzentriert − und erwacht am Ende überwältigt wie aus einem Märchentraum. Es sind wohl dieser schier überbordende Einfallsreichtum neuer Posen, Gesten, Formationen neben offensichtlicher Zitierfreude von Elementen der dance d'école und dem Witz von Keith Harings Graffitti-Figuren wie auch die technische Brillanz und Individualität der Truppe, die „Johannes Brahms - Symphonie Nr. 2“ wie Tanz von einem anderen Stern aussehen lassen.
Schläpfer offenbart seine Gedanken zu dem Bemühen eines heutigen Tanzmachers um die klassischen Wurzeln mit entwaffnender Geradlinigkeit: „Ich schaue immer wieder auf die großen romantischen Ballette, bewundere sie, studiere sie… Aber ich bin ein Choreograf von heute, habe ein anderes Menschenbild, liebe eine andere Freiheit, einen anderen Tänzertypus“, und er gesteht ein: „Ich möchte herausfinden, wie die akademische Technik eine Sprache unserer Zeit sein kann“. Mit seiner Musikwahl katapultiert er sich zurück in die Zeit des klassischen Balletts.
Das „liebliche Ungeheuer“ deutet Keso Dekker mit seinem Bühnenbild an: eine düstere Landschaft ist mit expressionistischem Gestus auf den Rückprospekt gemalt − ein eisiges, verschneites Schiefergebirge vielleicht. Die Tänzer kleidet der Niederländer in silbern glitzernde und wasserblau glänzende Ganzkörpertrikots. Sie treten fast alle durchweg barfuß auf − solistisch, in Paaren und kleinen Gruppen, als Corps in langen Diagonalen über die Bühne defilierend und verharrend − und manche stellen weiße Badeentchen (nein, keine kleinen Schwäne!) an die Rampe, die Remus Şucheanᾰ im Finale mit strenger Miene aufklaubt und, auf dem Unterarm aufgereiht, im Schlusstableau präsentiert. Tritt in den beiden Ecksätzen fast die ganze Kompanie auf, so sind es im elegischen Adagio sieben Paare und im Allegro grazioso Marlúcia do Amaral solo. Verschmitzt und kokett lächelnd schreitet die Diva zu den Oboen- und gezupften Celli-Klängen des Menuetts an die Rampe, wechselt Standbein und Spielbein, hebt die Hüfte, streckt das Hinterteil in den Raum, gestikuliert, sinniert, probiert, um schließlich im Presto rasant rückwärts trippelnd große und kleine Serpentinen mit ihren Spitzenschuhen in den Bühnenboden zu hacken. Welch eine Künstlerin! Carusos lang gehaltenes hohes C ist ein schnell verwehter Hauch dagegen.
Die drei kurzen Stücke, die der Brahms-Uraufführung vorangestellt sind, zeigen einerseits eine weitere Facette großen Balletts des 20. Jahrhunderts, das Schläpfer zum Schwerpunkt seines Repertoires erklärt hat, und bieten Solisten auch Anlass, sich tänzerisch wie darstellerisch zu präsentieren. Andererseits sorgen sie für schwerelose Unterhaltung. Der Pas de deux „The Leaves are Fading“ von Antony Tudor vereint das physisch recht unterschiedliche Paar Marcos Henha und So-Yeon Kim (in der gesehenen Vorstellung am 16.2.2013), so dass sich der gertenschlanke, hochgeschossene Brasilianer immer wieder zu der zierlichen Koreanerin hinunter beugen muss. Wunderbar wirken aber die perfekt ausgerichteten Profil-Positionen der beiden und Kims federleichte Sprünge und Drehungen.
Eine unglückliche Liebesgeschichte erzählt der Engländer in „Jardin aux Lilas“. Thomas Ziegler hat dafür sehr malerisch das Fin de siècle Ambiente eines üppigen Fliedergartens auf die Bühne gezaubert. Die zarte Caroline (Claudine Schoch) soll eine Vernunftehe mit dem eiskalten Karrieremann (Christian Bloßfeld) eingehen, tändelt aber immer noch mit ihrem Liebhaber (sehr geschmeidig: Paul Calderone), während ihr Zukünftiger von einer „Episode aus der Vergangenheit“ (mit wunderbarer Aura in purpurrotem Samt-Empirekleid: Louisa Rachedi) verfolgt wird.
Nachdem sich in den beiden Tudor-Balletten, einstudiert von dem einstigen Tudor-Tänzer Donald Mahler, vorwiegend jüngere Mitglieder des „Ballett am Rhein“ recht brav solistisch profilieren, beschert Camille Andriot dem Publikum eine kleine Sternstunde: Frederick Ashtons „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“, kreiert für die legendäre Lynn Seymour und von der Kanadierin mit Andriot einstudiert, tanzt die rothaarige Französin frappierend „authentisch“ wie eine rührende Stummfilmszene mit unfreiwilliger Komik.
Martin Schläpfer lässt „b.14“ in dieser Saison ausschließlich im Theater Duisburg tanzen. Da ist das vom Aus bedrohte Haus plötzlich rappelvoll; denn nicht nur Zuschauer aus den umliegenden Gemeinden, sondern offensichtlich auch Düsseldorfer Schläpfer-Verehrer und andere (z.B. aus Essen und Münster) reisen an. Auch Heinz Spoerli schaute schon vorbei.
Ein kluger Schachzug und Akt der Solidarität mit dem kriselnden Partner. Das Eis scheint gebrochen, das „Ballett am Rhein“ in seiner vierten Saison endlich auch ganz angekommen an der Ruhr.
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