Kein Verstehen ohne Gedächtnis

Stephan Brinkmanns schreibt in seiner Dissertation „Bewegung erinnern“ über Gedächtnisformen im Tanz

Stephan Brinkmanns Dissertation „Bewegung erinnern“ über Gedächtnisformen im Tanz ist ein Denken, Sprechen und Schreiben über Tanz aus der Praxis heraus!

transcriptverlag, 26/02/2013

Dies scheint mir der bestimmende Grundgedanke vorliegender Untersuchung. Diese Perspektive gibt dem Buch seinen besonderen Stellenwert. In den Zellen der Tänzer ist das Bewegungswissen verkörpert. Ein Erleben des Beobachtenden in der Ich-Perspektive. Tanz aus der Sicht des Tanzenden wie aus der Sicht des Sehenden wird zum Untersuchungsgegenstand dieser umfänglichen Studie „für die Frage nach einer anderen Art und Weise des Erinnerns“. Ihr Autor Stephan Brinkmann verfügt als Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters sowie als Prof. für Zeitgenössischen Tanz an der Folkwang Universität der Künste in Essen über einen fundierten Erfahrungsschatz, um Kunst (Praxis) und Wissenschaften (Theorie) zu verbinden.

Ziel der Studie ist es, unterschiedliche Gedächtnisformen aus Naturwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaft mit dem Tanz und der Tanzpraxis zu verbinden. Bis hinein in die Wir-Form der Probentagebücher verfolgt der Autor die Fragestellung: Was erinnern wir Tänzer, wenn wir tanzen? Brinkmanns Ausgangspunkt ist subjektiv, seine eigene körperliche Tanzerfahrung bleibt konstituierend. Seine Intention ist es, die „in der Tanzwissenschaft dominierende Perspektive des Zuschauers um die Perspektive der professionellen, tänzerischen Erfahrungswelt“ zu ergänzen.

Brinkmann forscht nach Wesensmerkmalen des Gedächtnisses im Tanz und untermauert die Einsicht, dass „relevante Gedächtnisinhalte im Tanz nicht schriftlich fixiert sind, sondern dass sie mündlich und körperlich weitergegeben werden“. Durch die Implementierung eigener Tagebuchnotizen, Probenaufzeichnungen und Notate zu Aufführungen macht er damit eigene Erfahrungen zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Er tanzte als einer von 32 Tänzerinnen und Tänzern viele Vorstellungen auf dem Torfboden Pina Bauschs „Le Sacre du printemps“; an der Uraufführung 1975 war er nicht beteiligt.

Wie ist es möglich, dass der Tanz als etwas Wiederholbares überlebt? Welche Rolle spielt das motorische Gedächtnis bei der Wiederbelebung einer bereits vorhandenen Choreografie? Durch wen und wie wird die Vorstellungskraft der Tänzer angesprochen und eingefordert? Wie erhält ein Repertoire-Stück durch Bloßlegung der Erinnerungsspuren seine Authentizität im Gegenwärtigen? Welches Wissen ist nötig, um die grundsätzliche Idee, die charakteristische Bewegungsqualität des Stücks und die Form der Choreografie in immer neuen Besetzungen (seit der Uraufführung 1975) lebendig zu halten? Woher speist sich die emotionale Wucht von „Le Sacre du printemps“, die sich zum einen auf den Zuschauer überträgt und zum anderen für die Tänzer in der konkreten Ausführung der Bewegung fühlbar ist?

Stephan Brinkmann richtet den Blick auf Tanz als einen in Bewegung befindlichen Erkenntnisprozess. Dies ist eine Absage an statisches Bewegungs-Wissen. Das Gehirn ist kein Archiv, sondern Organ der Wahrnehmung, das durch die Absicht der Erinnerung beeinflusst wird. Gedächtnis im Tanz generiert sich in fortwährender Bewegung als schöpferischer Prozess. „Die Aktivität des Gedächtnisses wird im Tanz in Bewegungen des Körpers erfahrbar und beobachtbar zugleich“. Das menschliche Gehirn ist nicht in Bewegung, „weil es versteht, sondern versteht, weil es sich bewegt.“(…) „Tanz verändert die Gehirnstruktur“. Und so verteidigt Brinkmann (mit Mary Wigman – ‚körperliche Bewegung‘, ‚seelische Bewegtheit‘, ‚geistige Beweglichkeit‘) den schöpferischen Tanzkünstler, der über das ‚Wie‘ und ‚Warum einer Bewegung nachzudenken befähigt ist.

Das erste Kapitel beleuchtet in umfänglichen naturwissenschaftlichen Bezügen anhand der Gehirnforschung die Funktion des Gedächtnisses als individuelle Erfahrung. Sehr interessant ist das Kapitel zum kollektiven Gedächtnis und damit die Ausweitung der Fragestellung auf den sozialen Zusammenhang, in dem und mit dem sich Erinnerung als Interaktion des Einzelnen mit dem Denken der Gruppe herausbildet. Über persönliche Bindungen untereinander hinausweisend hat im Ensemble der Tanzkompanie (als soziales Milieu) das Fühlen und Denken durch die hier praktizierte Tanztechnik und Choreografie eine unpersönliche Form angenommen. Verbunden mit einem bestimmten Ort (Probenraum Lichtburg) wird das Gedächtnis des Einzelnen zum Teil des Gruppengedächtnisses. Diese Studie erhellt (vor allem mit Bezug auf die Gedächtnistheorien von H. Bergson, M. Halbwachs, J. Assmann) was Tänzer erinnern, wenn sie tanzen.

Im Kapitel Tanz, Gedächtnis und Technik zeichnet der Autor ein detailliertes Bild der ideellen Vernetzung im historischen und tanzkünstlerischen Kontext. „Die Tänzer der Jooss-Leeder Methode zeigen sich miteinander nicht nur durch die Arbeit an einer bestimmten Tanztechnik verbunden, sondern auch durch ein gemeinsames ‚choreographisches Gedächtnis‘, so Brinkmann.

Seine fundierte Darstellung öffnet die grundlegenden inhaltlichen Bezüge, die in Jooss´„Der Grüne Tisch“ (seit der Pariser Uraufführung 3. Juli 1932) über Jahrzehnte und Kontinente hinweg bis ins 21. Jahrhundert im Körpergedächtnis vieler Tanzkompanien fortbestehen.
Brinkmann richtet den Fokus auf die Tanzpädagogen und Choreografen. Sie sind die leibhaftigen Wissensträger, die Informationen der Vergangenheit zu Körper und Bewegung weitervermitteln. Im bewussten Zusammendenken von Inhalt und Form handelt es sich um Wertvorstellungen, die die tägliche Arbeit im Probensaal und Aufführung bestimmen.

Brinkmanns Recherche beleuchtet die tanztechnische Arbeit im Unterricht von Hans Züllig, Jean Cébron und Eckard Brakel um herauszufinden, was ihre Körperarbeit als motorisches und kulturelles Gedächtnis mit Jooss und Leeder noch nach Jahrzehnten verbindet und damit von anderen unterscheidet: „Es geht in der Jooss-Leeder-Methode darum, Zusammenhänge zwischen Körperbewegung und geistigen Manifestationen, zwischen körperlicher Bewegung und Erinnerung herzustellen.“

Vielfältig und immer sprachlich prägnant wird erfahrbar, wie die Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters zum Träger des kulturellen Gedächtnisses werden, das in jeder Aufführung von „Sacre“ sichtbar wird. Überlieferung ist ein kommunikativer Prozess der Interaktion zwischen Probenleiter, Tänzer, Choreograf. Im Probenalltag begegnen sich kommunikatives und kulturelles Gedächtnis.

Tanztechniken und Choreografien sind Formen kollektiver Erinnerung. Brinkmann entwirft argumentativ ein Spannungsfeld von „Erinnern und Vergessen, von kollektiv geprägten Bewegungs- und Ausdrucksformen und deren individuelle(r) Auslegung und Neuschöpfung“. Im Kontext und argumentativen Dialog legt er Gedächtnisspuren frei, ergänzt das Gedächtnis des Geistes durch das Gedächtnis des Körpers. „Wichtiger als das Behalten von Schrittfolgen ist, dass sich Vorstellungen bewahren“. Damit bleibt der Autor dem schöpferischen Tanz-Gedächtnis (nicht nur aber auch in der Beantwortung der Frage: Wie viel Jooss ist in Bauschs´ „Sacre“?) auf der Spur.

Es lohnt sich die 308 Seiten zu studieren, um besser zu verstehen, wie sich kommunikatives und kollektives Gedächtnis im Tanz am Beispiel der Einstudierung einer bereits existenten Choreografie im Spannungsfeld von Wiederholung und Erfahrung konturiert. „Nicht ausschließlich im Interesse des Zuschauers, sondern auch im Interesse der Tanzpraxis soll hier ein Beitrag geleistet werden, wie wir über Tanz denken und sprechen können“, so der Autor einleitend.

Die heutige Herausforderung sieht Brinkmann im zusammenfassenden Ausblick seiner Dissertationsschrift zu Recht in der Vermittlungskompetenz zwischenmenschlicher Kommunikation, „da Gedächtnis im Tanz eine Kombination aus Bewegungen des Körpers und Erinnerungen des Geistes ist“. Wie wir, die Tänzer, über das Erinnern von Tanz sprechen können, ist Stephan Brinkmann schreibend mit vorliegender Dissertation in einem breiten argumentativen Bezugsfeld aus Praxis und Theorie überzeugend gelungen.

Stephan Brinkmann: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. transcriptverlag, Bielefeld 2013
328 Seiten, ISBN 978-3-8376-2214-0, kart. 34,80 Euro

 

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