Tänzerischer Fries um Liebe und Leben

Multimedial in Radebeul: Reiner Feistels „Carmina Burana“

Feistel erzählt weder eine Geschichte noch bebildert er opulent die Liedinhalte. Um tänzerische Korrespondenz mit der Wucht der Chöre, der Kraft des musikalischen Universums geht es ihm.

Radebeul, 02/04/2013

Die Zahl der choreografischen oder szenischen Umsetzungen ist Legion. Seit Carl Orff aus den Anfang des 19. Jahrhunderts im oberbayerischen Kloster Benediktbeuren aufgespürten 254 Texten zu mittelalterlichen Liedern zwei Dutzend die Ehre gab, sie in einem einzigen Schaffensrausch und entsprechend künstlerischer Geschlossenheit zu vertonen, haben ihm die Choreografen seine Partitur beinah aus der Hand gerissen. Der Weltpremiere 1937 folgten zahllose Inszenierungen vieler bedeutender Tanzmacher.

Reiner Feistel als deren aktuellster hält sich in der Version für die Landesbühnen Sachsen an das, was damals Michel Hofmann schrieb, als er mit Orff die Textauswahl traf: Keine Theater-, einzig eine sinnlich vertiefende Raumwirkung sei beabsichtigt, keine Handlung, „höchstens ein bildhaftes Symbol“ der in der Musik einbeschlossenen Idee. Folglich erzählt Feistel weder eine Geschichte noch bebildert er opulent die Liedinhalte. Um tänzerische Korrespondenz mit der Wucht der Chöre, der Kraft des musikalischen Universums geht es ihm. Sein Problem: Klein ist die Radebeuler Bühne, nur 12 Tänzer zählt seine Kompanie. Der Ausweg: eine „Carmina Burana“ als multimediales Spektakel. Vorgefertigte Videoaufnahmen der Choreografie begleiten auf einer hochgestellten Leinwand das Geschehen der Szene. Wie sich herausstellt, ein bestechender technischer Trick, auch um die Zahl der Akteure zu doppeln und so den Tanz gegen die teils monumentale Musik nicht erblassen zu lassen.

Der 70 Minuten pausenlos durchlaufende Abend beginnt, als würde ein Computer eingeschaltet: Zu Brummen ein Streifenmuster auf der Gaze, Probenstudien erweitern sich zum Vollbild, das stoppt und transparent wird. Live-Tanz setzt ein, die Gaze hebt sich. In Stefanie Krimmels wohltuend stilisierten Kostümen, Hose und Bolero für die Männer, Top und gestuft schwingendem Rock für die Frauen, alles in Naturtönen, entwirft Feistel einen ebenso naturnahen tänzerischen Fries um jene Gefühle, die in Text und Musik anklingen und die Menschen bewegen, seitdem sie die Erde bevölkern: Liebe, Lebensfreude, Sinnenlust. An konkreten Figuren braucht es nur die paarstiftende Fortuna, die hier ein Mann ist und in Radebeuls Neuzugang Norbert Matkovics einen so präsenten wie potenten Interpreten hat. Weiter ein Paar, das es zu fügen gilt. Frauen und Männer grundieren diesen Vorgang, der bisweilen wie ein zeitgenössisches Frühlingsritual anmutet, und werden selbst in den Strudel der Emotionen hineingerissen. Aus der Marionette, die Fortuna erst noch bereit macht, wird Till Geier, der sensible Blonde, der fast magisch Judith Speckmaier mit ihrem wehenden Schwarzschopf anzieht.

Was das Paar an Gefühlen durchlebt, von der lyrischen Annährung bis zum weihevollen Einssein; wie Geschlechter zusammenprallen, die Frauen sich kokett geben, dann einfach all die schüchternen Männer packen; wie schließlich Isabel Dohmhardt als Botticellis leuchtend lichte Primavera anmutig über das Treiben wacht, die Paare in erotische Rage bringt, das gerät bei Feistel zu einem mitreißenden Hymnus auf Liebe und Leben. Übergroß schwebt am Ende der Frühlingsengel im Video über der Szene, dankbar heben die Paare den Blick zu ihr. Es sind mehrere Zutaten, die jenen Reigen vom Weben und Wirken des Naturhaften im Menschen so sehr bekömmlich machen. Zuvorderst Feistels unangestrengt moderne, harmonisch runde, erfindungsreiche Bewegungssprache, mit Sinn auch für augenzwinkernd heitere Momente, wie die Geschlechter eben so funktionieren. Dann Michael Keils enorm vielfältiger Videoeinsatz aus oft mehrteiligen Tableaux, gerahmten Bildern oder verlangsamten Sequenzen. Nicht zuletzt freilich, neben der grandiosen Musik vom Band, eine ambitionierte Tänzercrew mit Spaß gleichermaßen an der Form wie an der Botschaft.

Nach fast 16 erfüllten Jahren in Radebeul, 35 gesamt in Dresden soll Reiner Feistel ab neuer Spielzeit dem maroden Chemnitzer Ballett aufhelfen. Dort erwarten ihn jede Menge Arbeit und die missliche Situation, den vom scheidenden Intendanten noch rasch um zwei Jahre verlängerten Ballettchef neben sich zu wissen. Es bleibt zu hoffen, dass alle Beteiligten zu einem menschlichen Miteinander finden: zum Wohl einer teils neu zu formenden, dann wieder künstlerisch schlagkräftigen Kompanie.

Wieder 13. (Meissen), 14.4., 9., 19.5. (Radebeul), 29.5. (Hoyerswerda)
 

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