Wie es im Buche steht

Demis Volpis erster Abendfüller für das Stuttgarter Ballett

Volpi choreografiert „Krabat“, niedergeschrieben 1971, eine Parabel auf eine totalitäre Gesellschaft, die den Einzelnen gleichschaltet und menschenunwürdig behandelt; aber auch auf die Kraft der romantischen Liebe.

Stuttgart, 09/04/2013

Säcke über Säcke, meterhoch bis hoch in den Schnürboden, säumen die Bühne. Eine Welt, räumlich entworfen von Katharina Schlipf, tut sich auf, abgeschottet und undurchdringbar von außen. Unheimlich. In den breiten Lichtstrahlen von oben wirbelt der Staub. Sie verstärken noch die Verlorenheit, der die Gestalten ausgesetzt sind, die dort zwei Stunden lang eine Geschichte erzählen, die sich ursprünglich Otfried Preußler ausgedacht hat: „Krabat“, niedergeschrieben 1971, eine mehrfach ausgezeichnete, komplexe phantasmagorische Parabel auf eine totalitäre Gesellschaft, die den Einzelnen gleichschaltet und menschenunwürdig behandelt; aber auch auf die Kraft der romantischen Liebe. Krabat, ein Waisenjunge, gerät in die Fänge eines Müllers, der Jungen zum Arbeiten in seiner Mühle abrichtet und zudem als Lehrlinge für Experimente schwarzer Magie missbraucht. Die unbedingte Liebe eines Dorfmädchens namens Kantorka hilft ihm, sich mit der Realität des Ortes und dem Handeln des Meisters auseinanderzusetzen, es als Böses zu erkennen und für seine Freiheit zu kämpfen.

„Krabat“ markiert einen perfekten Stoff für ein Handlungsballett, jetzt realisiert beim Stuttgarter Ballett unter der Dramaturgie von Vivien Arnold und der musikalischen Leitung von James Tuggle, der Großes geleistet hat: Die Musikauswahl mit Kompositionen unter anderem von Peteris Vasks, Philip Glass oder Krysztof Penderecki schuf einen spannend spröden und herausfordernden, doch leider, um es gleich zu sagen, tänzerisch zu wenig genutzten Klangteppich. Die Frage ist daher: Wie gingen Demis Volpi, der anlässlich dieser Arbeit neu berufene Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, und sein Team mit dem Stoff „Krabat“ um? Professionell und pragmatisch könnte man es prägnant auf den Punkt bringen, und darin liegt bei aller Perfektion die Schwäche der Inszenierung.

Gerade das Widerständige der Kunst, jener Gestus, der dem Tanz unabhängig von seiner Ausstattung und seinem narrativen Auftrag durch eine auffallend spezifische Bewegungssprache und entsprechendes Schrittmaterial Raum gibt, vermisste man hier. Während seine Vorgänger in völlig unterschiedlicher Weise immer genau darauf bestanden – seien es Uwe Scholz oder Christian Spuck gewesen oder vor allem der noch amtierende Goecke -, den Tanz, so wie sie ihn sahen, durch eine zwingende, ganz individuelle und auch definierte Körper- und Bewegungsbetrachtung hervor- und dem Betrachter als Spiegelbild seines Daseins gegenüber treten zu lassen, schien es, als habe Volpi bis auf das kurze Solo von Warschula, der Geliebten von Krabats Freund, genau jenen vergessen. Den Tanz in seiner eigenen Bewegungssprache, den er in seinen Kurzstücken zuvor für die Noverre-Gesellschaft, das Stuttgarter Ballett oder auch das Ballett Augsburg hatte aufblitzen lassen. Dass hier, mit Ausnahme des „Krabat“-Darstellers David Moore als Erst- und Robert Robinson als Zweitbesetzung (und das auch nur im dritten Teil), nicht einer, nicht einmal Marijn Rademaker beziehungsweise Jason Reilly als „Meister“ oder die in ein jede Bewegung verhinderndes Kostüm gezwängten Sue Jin Kang und Alessandra Tognoloni als Herr Gevatter in einem langen, bewegungsreichen Solo ihre ausgereifte Kunst als Tänzer hatten zeigen dürfen, ist gegenüber diesen Künstlern fast unverzeihlich.

Woran lag's? Hier lässt sich nur räsonieren. Volpi hatte mit „Krabat“ eine zielgruppenorientierte Auftragsarbeit erhalten. Er sollte ein Werk schaffen, das auch für jüngeres Publikum geeignet sei. Damit verbunden war der Lehrauftrag, ein Handlungsballett zu konzipieren, wie es im Buche steht. Beides engt so, wie damit umgegangen wurde, ein. Denn auch das Format und die typischen Merkmale des Handlungsballetts sowie Sinn und Zweck der überragend passenden Musik wurde in fast traditioneller Weise bedient. Beispiel: Mitten über die Säcke wirft sich anlässlich des szenischen Ortswechsels ein überdimensionales lyrisches Naturbild mit See, vor dem die Mädchen vom nahe liegenden Dorf in Reih und Glied auftreten, wie man es symptomatisch aus den weißen Akten von „Giselle“ oder „Schwanensee“ kennt. Eine solche altbackene Ästhetik und unverholene Anspielung verwundern, wurden sie doch gerade in Stuttgart von Spuck und Goecke zuletzt überwunden.

Sicher: Volpi und sein Team erzählen leichthändig, eingängig, in klaren, nachvollziehbaren Bildern. Jeder der drei Teile begann vorne auf einem schmalen Bühnenstreifen. Lockende Hände und Arme ragten aus dem schwarzen Vorhang hervor. Ein Junge, zuerst Krabat, dann der Bettlerjunge Wittko, schließlich das Waisenkind Lobosch, betreten die Szenerie. Es taucht der Meister im langen, aufwändig hergestellten Mantel auf. Er verfällt in beschwörende, verführende Gesten, die das einzelne Opfer in die Mühle zwingen, wo dann sofort und beim ersten Mal noch beeindruckend eine lakonische Gruppenvariation für Männer mit Säcken auf den Armen sich entfaltet, die eindrucksvoll von der harten Arbeit in der Mühle erzählt.

Spielfreude entwickelte Volpi vor allem im zweiten Teil, wo er mit der Ausgestaltung des Hahnenkampfes zwischen dem Meister und dem Zauberer Pumphutt die Lacher auf seine Seite zog. In bester Copy-Paste-Manier schlüpften Reilly und Rachele Buriassi, die Fäuste aufeinander gerichtet und dabei fliegend wie Kung Fu-Meister in verschiedene Rollen: Indianer und Cowboy, Käpt'n und Pirat, Zen-Meister und Herausforderer. Auch das Aufladen der Inszenierung mit optischen Täuschungen und Tricks á la „Harry Potter“ löste Freude aus – das fliegende Zauberbuch, der in die Knie gezwungene, scheinbar geschrumpfte Meister, ein pfeilschnell fliegendes Augenband, die Umwandlung der abhängigen Mühlenarbeiter in federnreiche Rabenvögel. Zugegeben: Zunehmend entwickelte die Vorstellung einen Sog und man folgte brav dem Fortgang der Geschichte, wie der Meister Konturka testet, ob sie ihren Geliebten mit verbundenen Augen erkennt, erfreute sich an den zusammenbrechenden Sackwänden und ging dann erleichtert in die dunkle Stuttgarter Nacht.

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