„Short works: 24“ von Crystal Pite. Tanz: Max Levy

„Short works: 24“ von Crystal Pite. Tanz: Max Levy

24 Minuten Tanz und viel Gejohle danach

Am Staatstheater Nürnberg sorgte der neue Tanzabend „Zweiheit“ für Begeisterungsstürme

Die Repertoirepolitik Goyo Monteros, neben seinen eigenen Arbeiten aus dem europäischen Kanon zu schöpfen und Werke von Kylián, Ek, Inger oder jetzt von Crystal Pite und Mauro Bigonzetti unter dem Abendtitel „Zweiheit“ nach Nürnberg zu holen, ist bewundernswert.

Nürnberg, 28/04/2013

 

 

Es gibt im Tanz Momente, da reichen nur Sekunden und irgendetwas im Herz oder in der Seele reißt auf. Der Tänzer Saul Vega, einer dieser vielen intensiven Künstlerpersönlichkeiten in Goyo Monteros Ballettensemble am Staatstheater Nürnberg, verschafft einem diesen starken Moment, in dem man Heulen könnte vor Glück. Es ist die Art, wie er ganz allein im Dämmerlicht des weiten leeren schwarzen Bühnenraums, in brauner Hose und ärmellosem Shirt, locker nach unten zu den Händen gebeugt, über die Bühne swingt, schnippt, sich reckt, schmilzt, tänzelt, so bewegungsreich, dass man es nicht erinnert, kaum dass es vorbei ist. Gitarrenklänge dominieren die Komposition, auf die er sich einlässt, so definiert und sensibel, dass man sofort an die Soli von Marco Goecke denkt, der mit ihnen Meilensteine in der aktuellen Tanzgeschichte geschaffen hat.

Eine Minute lang dauert dieses Menschensolo, und dreiunzwanzig weitere Minutenstücke folgen noch. „Short Works: 24“ nennt Crystal Pite ihr vor elf Jahren in British Columbia uraufgeführtes Meisterwerk – denn es ist ein solches, beziehungsweise muss man sagen, Monteros seit fünf Jahren aufgebaute Truppe präsentiert es auch als solches: knackig, präsent, durchdrungen, technisch hochgeschmeidig modern, als Einheit. Die Repertoirepolitik des Spaniers, neben seinen eigenen meist sehr überzeugenden Abendfüllern und Kurzstücken konsequent aus dem europäischen Kanon zu schöpfen und Werke von Kylián, Ek, Inger oder jetzt von Crystal Pite und Mauro Bigonzetti unter dem Abendtitel „Zweiheit“ nach Nürnberg zu holen, ist bewundernswert. Den Raum, den er selbst genießt, seine künstlerischen Visionen umzusetzen, gibt er auch international gefragten Kollegen und verschafft auf diese Weise nicht nur seinem auf über zwanzig Tänzerinnen und Tänzer angewachsenen Ensemble wertvolle Impulse, was das Kennenlernen und Umsetzen anderer Bewegungssprachen und Ästhetiken anbelangt. Vielmehr engagiert er sich auf diese Weise schlicht für die tänzerische Bildung des Publikums.

So begeistert Pites Kreation schlichtweg von der Bewegungssprache, den choreografischen Konstellationen und der weltkulturellen Aura und sowieso vom differenzierten, Geräusche, Klang und Instrumente zusammenführenden, atmosphärisch eingehenden Soundteppich von Owen Belton her. Tanz und Musik, Soli und Gruppe werden hier stilistisch und strukturiert konsequent durchdekliniert und engmaschig aufeinander bezogen. Aufmerken lassen neue Bewegungskompositionen, die durch Dynamik, Fragmentierung und hohe Synchronität bestechen. Erzählt wird hier nichts, doch im Gesamtzusammenhang ergeben sich humorvolle, skurrile, dann wieder ernste und ironische Eindrücke von menschlichen Erfahrungen.

Einziger Kritikpunkt: Das Frauenbild in der Choreografie ist, kaum merklich, aber doch wahrnehmbar, weniger konturiert und damit etwas kraftloser als das Männerbild.

Insofern narrativer und unter Gender-Gesichtspunkten gleichberechtigter funktioniert Mauro Bigonzettis „Cantata“, das zweite Geschenk an das bayerische Tanzpublikum. Geschaffen 2001 für das legendäre, leider aufgelöste Gulbenkian Ballett Lissabon, erlebt der Zuschauer ein furioses, lebensbejahendes Spektakel auf Lieder der Gruppo Musicale Assurd. Männer in Hemden und Hosen mit Hosenträgern und Frauen in groben, knielangen Kleidern vertanzen kräftig und immer wieder laut johlend wie auf einem italienischen Dorfplatz die Anziehungskräfte, Ärgereien, Reibereien, sinnlichen Begierden und Sehnsüchte zwischen Mann und Frau, dass man am Ende am liebsten mittanzen würde. Während Pites Ästhetik sich ganz eigenständig unter anderem auf Forsythes Errungenschaften im Tanz bezieht, kann Bigonzettis Werk als aufgeräumte Referenz an Pina Bauschs Tanztheater gelesen werden, etwa wenn zwei der Tänzerinnen sich von der Gruppe lösen und hemdsärmelig in bestem spanischdeutschem Kauderwelsch über die nach Schweiß stinkenden Männer lästern. Da sind die ernsten, melancholischen, zuweilen depressiv anmuten und daher schier spaßfreien Varianten im weiten Feld des zeitgenössischen Tanzes ganz weit weg.
 

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