Die Bühne ist der Körper des Zuschauers

Sich raushalten gilt nicht: Der Choreograf Felix Ruckert arbeitet bei „Deluxe Joy Pilot“ mit dem Publikum zusammen

München, 09/08/2002

Vor dem Einlass werden die Spielregeln bekannt gegeben: Wer an der Aufführung teilnimmt, kann zwischen drei Möglichkeiten wählen. Kann sich knuffige blaue Plastiksessel aussuchen, entspannt zurücklehnen und in angenehmer Lounge-Atmosphäre das große Ganze im Auge behalten. Wer eine große erhöhte Liege erklimmt, wird unter Umständen von seinem weich gepolsterten Ruhekissen gerufen und zu einigen Interaktionen mit den Tänzern aufgefordert. Sucht man sich hingegen eine schmale Liege aus, ist klar, dass man mit Haut und Haar ins Bühnen-Geschehen integriert ist.

Dass der Zuschauer so gut wie immer mittanzt, wenn er Tanz zusieht, ja, aufgrund seines sechsten, kinästhetischen Sinns, seines Bewegungssinns, gar nicht anders kann, als Bewegung aus dem eigenen Körper heraus (und nicht nur mit den Augen) wahrzunehmen, ist bekannt. In welchen Nuancen diese Rezeption abläuft, beschäftigt eine Reihe von Choreografen zwischen – alphabetisch gesprochen – Jérôme Bel und VA Wölfl. Seinen eigenen Weg geht dabei Felix Ruckert, der den Prozess, wie Tanz wahrgenommen wird, mit der Aktivierung des Zuschauers koppelt, sein Augenmerk richtet auf das Feld zwischen Tänzern und Zuschauern. Dieses Feld kann in den Inszenierungen des Wahlberliners aus Mespelbrunn so sehr schrumpfen, dass zwischen den Körper des Zuschauers und den des Tänzers nicht einmal mehr ein Handtuch passt.

In „Hautnah“ (1995) verschwand ein Zuschauer mit einem Tänzer für eine Viertelstunde im Chambre séparée. In „Schwartz“ (1998) blieb dem Besucher nichts anderes übrig, als selbst Tänzer zu werden und projizierten Aufforderungen zu folgen, etwa seinem wildfremden Gegenüber in die Augen zu schauen, dessen Hände zu betrachten oder ihm ein Kompliment zu machen. In dem Stück „Ring“ (1999) konnte man als Publikum wählen, ob man passiv zuschauen oder aktiv mitmachen wollte bei einem Tanzspiel, das auf einige den Eindruck einer läppischen gruppendynamischen Lockerungsübung machte, von dem viele Teilnehmer aber schwärmten, wie entspannend und lustvoll es gewesen sei. Doch allein die Tatsache, dass die traditionelle Distanz zwischen Akteuren und einem Teil des Auditoriums aufgehoben ist, wirkt zurück auf den Gesamtkontext, verändert diesen Theaterabend wie die Wahrnehmung von Tanz generell. Indem man sich bewusst wird, intimen Interaktionen zuzusehen, die sich zwischen Darstellern und Zuschauern abspielen, hat man seine Passivität aufgegeben, ist ein Schritt zur Grenzüberschreitung vollzogen.

Die direkte Konfrontation in „Hautnah“ fordert heraus. Sie wirft zurück nicht nur auf die Wahrnehmung von Tanz, sondern von Kunst überhaupt und macht zugleich den eigenen Körper und dessen Empfindungen zur „Bühne“. Das Publikum ist seiner Konsumentenrolle enthoben und trägt seinen Körper zu Markte. Die Kommunikation läuft über unmittelbaren Körperkontakt, sie muss intensiv und deutlich sein. Beherztes Machen ist gefragt. Das fasziniert Felix Ruckert, der zunächst Musiker war, bevor er mit dem Tanzen begann: „Man kreiert immer die Stücke, die man selbst sehen will. Ich bin Tänzer, was mich am Tanz interessiert, war immer das Machen. Als körperliche Erfahrung und als Ausdrucksmittel.“ Beides will der 1959 geborene Künstler, der unter anderem bei „Neuer Tanz“, Mathilde Monnier und Pina Bausch tanzte, in seinen Stücken direkt vermitteln.

Dabei sind die Abläufe dieser Interaktionen gegliedert und ritualisiert. Die Gesamtwirkung hinter den individuellen – „superstrukturierten“ – Aktionen vernachlässigt Ruckert keineswegs. Deswegen funktioniert „Deluxe Joy Pilot“, das heute und morgen bei der Tanzwerkstatt Europa in der Muffathalle (20.30 Uhr) zu erleben ist, für das Auge des Betrachters auch als Theaterstück. „20 Prozent“, sagt Ruckert, „ist choreografiertes Material, der Rest präzise Improvisation.“ Seine Tänzer brauchen ein hohes Bewusstsein vom Raum, für die Dynamik im Raum, sie müssen sich ein peripherisches Sehen aneignen, das es ihnen erlaubt, das Geschehen um sie herum zu verfolgen, trotz ihrer individuellen Arbeit am „Klienten“. Manches, was auf den kleinen Liegen abgeht, erinnert durchaus an krankengymnastische Zuwendungen, da werden Rücken massiert und Beine ausgestrichen, da wird der Kopf betastet und das Gewicht verlagert. Die Tänzer wuchten und hebeln, heben und ziehen, berühren und betasten. Der manipulierte Körper folgt, gibt ab, lässt mit sich machen. Zwischen ihren dynamischen Tanzsequenzen führen die Tänzer Auserwählte in den Raum, arrangieren an ihnen eine Körperhaltung, gehen auf ihre Bewegungen ein.

Dabei ist die Koordination von „Deluxe Joy Pilot“ ziemlich perfekt. Wenn nicht gerade eine Liege mit ohrenbetäubendem Lärm in sich zusammenbricht, stört kaum etwas die ausgeklügelten, von Ruckert „mitdirigierten“ Abläufe, wobei die Musik sowohl als Kommunikationsmittel für die Tänzer als auch dramaturgisch für die Zuschauer wichtig ist. Genötigt wird niemand. Wer angesprochen wird und ablehnen will, kann das selbstverständlich tun. Die Atmosphäre ist freundlich. Delikat zuspitzen können sich die öffentlich vollzogenen Individualbehandlungen natürlich schon. Der Gratwanderung ist sich der Choreograph bewusst: „Ich mache mir ständig Gedanken darüber, dass die Leute nicht vorgeführt und ausgestellt werden. Viel vermag die Qualität der Tänzer. In ihrem Kopf ist die Distanz trotz der Nähe zum Zuschauer vorhanden.“ Probleme, die sich in Ruckerts jüngstem Stück „Secret Service“ so nicht stellen: Hier herrscht die absolute Anonymität, wenn ein Besucher mit verbundenen Augen auf einen Performer trifft, der ihn in einer ersten Stufe sanft und wohltuend behandelt. In einer zweiten dann, wenn man es wünscht, auch peinvoll. „Zur Liebe“, so Ruckert, „gehört nicht nur Zärtlichkeit, sondern auch ein aggressives Moment. Dominanz, Unterwerfung, Sexualität.“

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