Lieber ein Buch vor dem Bauch als ein Brett vor dem Kopf

„Das verlorene Tagebuch“ als Tanzspaß mit dem Semperoper Ballett

Ein wahres Fantasiereich hat Choreograf Michael Tucker mit „Das verlorene Tagebuch“ geschaffen.

Dresden, 29/06/2013

Es geht um Bücher; doch der Worte bedarf es nicht, denn hier wird getanzt. Für die Probebühne Semper 2, für ein Publikum so gut wie aller Altersklassen, hat der Dresdner Tänzer Michael Tucker eine Geschichte erfunden und derselben kraft seiner choreografischen Fantasie beschwingtes Leben eingehaucht.

Der Ort ist eine ehrwürdige Bibliothek im Bühnenbild von Jee Hyun Kim. Herr und Wächter über die gebundenen Seiten ist ein akkurater Herr Bibliothekar, getanzt von Raphaël Coumes-Marquet. Wahrscheinlich hat dieser Herr eine ganze Bibliothek im Kopf, daher beschreibt er die Seiten eines Tagebuches mit Erinnerungen und Träumen. Die Schrift ist geheim, die Bilder dazu im Comicstil sagen uns, dass auch ein Bürokrat ein Stück Kindheit in der Tasche und jede Menge Sehnsucht im Herzen hat.

Wir sind im Theater, wir sind im Ballett, wir sind im Reich der Fantasien, ganz selbstverständlich tanzt das Tagebuch des Herrn Bibliothekar, und es tanzt ganz wunderbar. Elena Vostrotina als elegante Schönheit des 20er Jahre des letzten Jahrhunderts fasziniert mit den weiten, weichen Linien ihrer Bewegungen, gemeinsam mit ihrem „Autor“ schwelgt sie in neoklassischen Träumen. Das Buch trägt sie am Bauch, ein wenig komisch sieht das aus; aber wie schon gesagt, besser ein Buch vor dem Bauch.

Gebrettert wird dann umso kräftiger, wenn vier studentische Spaßvögel die Ordnung der heiligen Bücherhalle gründlich auf den Kopf stellen. Claudio Cangialosi, Julian Lacey, Jan Oratynski und Francesco Pio Ricci lassen es krachen und nach der Devise „Jedem Boy sein Book“ geht die Party los. Das reicht vom Schuhplattler über ausgelassenen Spaß zu Klezmerklängen, einem Polka-Jux von Johann Strauss, dem deutschen Schlager, bis hin zu Rock und Rap.

Der Augenschmaus ist perfekt, wenn die Tänzerinnen Raquél Martinez, Caroline Beach, Carmen Piqueras und Vanja Vitman als überdrehte „Fachbücher“ fürs Kochen, mit Bandwurmgewächsen der deutschen Sprache, Sience-Fiction-Fantasien der Technik und den bespielbaren Körpervarianten eines Musikbuches dazu kommen.

Dann wird es fast ein wenig Ernst. Im Übermut wird das geheime Tagebuch gefleddert, aus der Bibliothek wird ein Operationssaal und Jenny Schäferhoff als resolute Ärztin nimmt eine phantastische Operation am offenen Buch vor. Skurrile Transplantationsversuche scheitern. Weder ein Krimi a là Hitchcock oder grimmige, grimmsche Märchenspäße, Westernromantik oder Hollywoodkitsch auf der Titanic lassen sich verpflanzen. Ein Tagebuch − ein geheimes zumal − will handbeschrieben sein.

Und weil der Kopf unseres traurigen Bibliothekars ob der Erinnerungen zu platzen droht, beschreibt er alle Seiten seines Lieblingsobjektes neu. Da klingt auch wieder die romantische Musik aus dem zweiten Klavierkonzert von Johannes Brahms auf; das Bücherpaar Elena Vostrotina und Raphaël Coumes-Marquet verschmilzt. Wir schmelzen mit und es fällt schwer auf den Sitzen zu bleiben, wenn die ganze Kompanie im rauschenden Finale zur Musik von Maurice Ravel noch einmal alle Register zieht und eine Show hinlegt, die das Publikum in schönster Tanzlaune entlässt.

Eine Frage bleibt: Wann kommt die nächste Show? Vielleicht ein Musical? Tänzerisch braucht man an der Elbe die Konkurrenz vom Broadway nicht zu fürchten.

Weitere Aufführungen: 29.06, 15 und 18 Uhr; 30.06., 14 und 17 Uhr; 2.07., 19 Uhr; 3.07., 18 Uhr, und in der nächsten Spielzeit:  www.semperoper.de
 

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