„Der Blick des Raben“ von Tarek Assam. Tanz: Michael Bronczkowski und Manuel Wahlen

„Der Blick des Raben“ von Tarek Assam. Tanz: Michael Bronczkowski und Manuel Wahlen

Umjubelte Premiere

Neues Tanzstück des Gießener Ballettdirektors Tarek Assam zu Edgar Allan Poe mit Musik von Moritz Eggert

Die Tanzcompagnie Gießen sorgt mit „Der Blick des Raben“ für ein ausverkauftes Haus.

Gießen, 20/10/2013

Der neue Tanzabend am Stadttheater Gießen ist eine doppelte Uraufführung und Spannung pur: „Der Blick des Raben“ zu Edgar Allan Poe in der Choreografie von Tarek Assam. Die umjubelte Premiere fand am Samstag vor ausverkauften Haus statt. Die Musik stammt von Moritz Eggert, der im Auftrag des Stadttheaters eine neue Komposition zu Poe schuf. Der in München lebende Komponist und Dirigent ist seit 2010 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater München. Als erklärter Poe-Fan hat er schon in der Studienzeit die Geschichte „Rabe Nimmermehr“ (1991) vertont. Dieser Teil kommt in der Neukomposition auch vor, macht aber nur noch einen kleinen Teil des gut 90-minütigen Stücks aus.

Das Philharmonische Orchester Gießen spielt live und unglaublich präzise unter dem Dirigat von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter. Große Orchesterparts wechseln mit stillen Liedervorträgen, hinzukommen „Zwischenspiele“, die den choreografischen Ablauf gewähren. Die Übergänge sind in allen Teilen, auch Bühnenbild und Tanz, immer fließend und nur selten trennscharf. So wie die Hauptakteure, zwei Raben-Menschen, zwischen Tag und Traum pendeln.

Ideengeber und Motor des Ganzen ist Tarek Assam, der das Thema wie gewohnt nicht als oberflächliche Erzählung anlegt, sondern der Atmosphäre in den Geschichten von Edgar Allan Poe (1809−1849) nachspürt. Dabei geht es auch nicht um Gruselschocker, wie es die Verfilmungen nahe legen, sondern um die Urangst des Menschen vor dem Tod. Immerhin schrieb Poe seine Geschichten lange bevor Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelte. Letztlich geht Assams Tanzstück über die Analyse hinaus, er zeigt über die Entwicklung seiner Hauptfiguren wie Psychotherapie im Idealfall klappen kann: sich den Ängsten stellen, Vertrauen in die eigene Stärke erlangen.

Der reale Rabenmensch tritt durchgehend in Alltagskleidung auf, dargestellt von einem hoch sensibel tanzenden und darstellerisch überraschenden Manuel Wahlen. Die zahllosen Ängste, die ihn plagen werden visualisiert im „Schwarm“ gesichtsloser Wesen mit Masken (Kostüme Gabriele Kortmann, Berlin) oder in grafischen Videos (Simon Brenner, Frankfurt), die den Protagonisten mal im Fokus eines Auges verschwinden oder von ekligen Insektenschwärmen überziehen lassen. Zu Hilfe kommt das Alter Ego des Raben, höchst beeindruckend dargestellt von Michael Bronczkowski als machtvolles, dunkel gekleidetes Wesen aus einer anderen Welt; er kennt die Ängste, weiß, dass man sie überleben kann,. Er begleitet und beschützt den anderen auf seinem Weg, bis er ihn wieder allein lassen kann.

Die zumeist beklemmend dichte Atmosphäre wird optisch getragen durch das ebenso schlichte wie ästhetisch ansprechende Bühnenbild (Fred Pommerehn, Berlin). Der Angst erfüllte Bühnenraum ist in klinisch-kaltes Weiß gesetzt, das stimmungsvoll verändert wird über farbige Beleuchtungen (Manfred Wende, Gießen) und transparente Wandteile, die quer über die Bühne auf mehreren Ebenen angebracht sind. Da sich diese häufiger rauf und runter bewegen, tragen sie zum Gefühl der Verunsicherung bei. Nur einmal ist der Bühnenraum ganz frei, ist die Weite sicht- und die Freiheit spürbar, als es im dritten Liedvortrag um eine Liebe im Sommer geht.

Ja, es gibt auch tröstliche Momente in diesem Stück. Dafür sorgen die lyrischen Liedpassagen, die von der Münchener Jazz-Sängerin Bettina d’Melo einfühlsam interpretiert werden. Die Choreografie ist immer unglaublich dicht dran an der musikalischen Neuschöpfung von Moritz Eggert, sie akzentuiert dramatische Entwicklungen oder unterläuft diese durch Stillstehen, sie visualisiert einzelne Instrumentalstimmen oder lässt die Gruppe wogen zu beständig sich wiederholenden Passagen.

Und die in Teilen neue Tanzcompagnie zeigt sich als „Schwarm“ in großartiger Form: die Tänzerinnen Caitlin-Rae Crook, Lea Hladka, Yuki Kobayashi, Jennifer Ruof, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, Leona Striet und die Tänzer Sven Krautwurst, Edoardo Novelli, Claudio Pisa, Endré Schumicky. Fazit: „Der Blick des Raben“ bietet 90 Minuten Spannung pur. Unbedingt empfehlenswert, nicht nur für Poe-Fans.

www.stadttheater-giessen.de / www.tanzcompagnie.de

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