Martin Schläpfer
Martin Schläpfer

Energetisch forciertes Ballett von heute

Ballett am Rhein-Choreograf Martin Schläpfer über die großen Themen Musik, Handlung, Dramaturgie, Frauen und Mentoren und seine Hölszky-Uraufführung in Düsseldorf.

Martin Schläpfer besucht im Februar 2014 das erste mal das Festspielhaus St. Pölten. Anlass für ein ausführliches Gespräch.

St. Pölten, 17/01/2014

Sie kommen mit dem von Ihnen geformten, sehr erfolgreichen Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg (am 22. Februar) erstmals ins Festspielhaus St. Pölten. Es handelt sich sogar um die Österreich-Premiere. Wieso erst jetzt? Nicht zuletzt auf Grund Ihrer Musikwahl, hätte man annehmen können, dass das Musikland früher nach Ihnen die Hand ausgestreckt hätte: Schubert, Brahms, Strauß, Ligeti...

Martin Schläpfer: Ich freue mich von Herzen, dass das Ballett am Rhein endlich nach Österreich eingeladen wurde. Warum es so lange gedauert hat, weiß ich nicht. Nach meiner 2006 uraufgeführten Choreografie „Marsch, Walzer, Polka“ auf Musik der Strauß-Familie hatte ich schon die Hoffnung auf ein Österreich-Gastspiel mit meiner damaligen Kompagie ballettmainz. Zudem liebe ich Wien sehr. Ohne zu wissen warum, fühle ich mich in dieser Stadt Zuhause. Jetzt in St. Pölten in der renommierten Tanzgastspielreihe auftreten zu können, ist für uns also eine große Freude, und ich danke Brigitte Fürle sehr für diese Einladung.

Wie wichtig ist das innere Programm eines musikalischen Werkes, mit dem Sie sich beschäftigen, für Ihre Choreografie? Könnten Sie das etwa an zwei Beispielen aus dem Gastspiel-Programm erläutern? Und was bedeutet Handlung in Ihren Balletten?

Martin Schläpfer: Musik ist so groß, eine Welt für sich – eine Philosophie. Musik ist ja nicht nur das, was man hört oder empfindet. Oft schwingen in ihr auch verschiedenste außermusikalische Aspekte mit: der Mensch, der sie komponiert hat – weniger bei Johann Sebastian Bach und Helmut Lachenmann, aber sicherlich bei Franz Schubert, Robert Schumann oder Gustav Mahler; dann die Entstehungszeit, ihr Soziales, Politisches, Kulturelles – ein Psychogramm der Menschheit. Wir haben also nicht nur rein musikalische Parameter wie Melodie, Harmonik, Rhythmus, Dynamik, Tempo oder Architektur, sondern auch Unter-, Ober- oder Seitenwelten. Zugleich kann man aber auch sehr musikalisch sein, indem man einfach nur die Atmosphäre eines Stückes trifft, und oft hilft es auch, auf die anderen Künste herüberzuschauen – die Bildenden Künste, die Architektur, die Literatur, die Lyrik… Unter Dramaturgie verstehe ich nicht, zu zeigen wie man von A nach Z kommt. Dafür gehe ich nicht ins Theater und auch nicht in eine Tanzvorstellung. Ich denke, dass der Tanz nicht im Erzählen, im Handlungsballett am stärksten ist. Das Publikum liebt das Handlungsballett nur deshalb so sehr, weil es die Handlung versteht. Dort ist man auf der sicheren Seite, den Tanz können dagegen viele nicht lesen.

Tatsächlich gibt es aber auch eine andere Rezeption als nur über den Kopf zu verstehen und zu sehen. Man kann eine Dramaturgie auch durch eine Setzung in der Körperlichkeit erreichen – wie z.B. in meinem Ballett „3“, in welchem ich alle Tänzerinnen und Tänzer permanent in Rücklage versetzt habe. 70 Minuten lang – das gab dem Stück einen unglaublichen Dreh: Die Becken waren nach vorne gedrückt, die Spitzenschuhe setzte ich sehr bodenbehaftet, fast knallend ein. Auch das kann Dramaturgie sein und einem Stück eine bestimmte Farbe, eine Atmosphäre, ein Parfüm verleihen.

Die drei Ballette, die in St. Pölten zu sehen sein werden, zeigen verschiedenste Facetten meines Schaffens. „Drittes Klavierkonzert“ auf das Klavierkonzert von Alfred Schnittke entstand im Jahr 2000 und war ein Meilenstein in meiner Mainzer Arbeit: klar choreografiert, musikalisch sehr genau auf die Partitur gepinnt und zugleich doch auch sehr atmosphärisch.

„Ramifications“ steht dagegen schon für eine neue Richtung, was sicher auch mit György Ligetis Komposition zusammenhängt. Acht Wochen lang habe ich mit meiner Ballerina Marlúcia do Amaral an diesem kurzen Solo gearbeitet.

Die „Ungarischen Tänze“ habe ich dagegen 2012 für das Ballett am Rhein in nur vier Wochen als Ersatz für eine Uraufführung, die Marco Goecke krankheitsbedingt sehr kurzfristig abbrechen musste, choreografiert. Die kurze Kreationszeit hat den Charakter des Stückes sicherlich mit beeinflusst. Ich habe mich regelrecht in ein Energiehoch hineingearbeitet, in einen Ausnahmezustand bei äußerst klarem Verstand. Entstanden ist ein leichtes, klar strukturiertes, sehr tänzerisches Ballett, in das ich jedoch auch einige Assoziationen zur politischen Lage eingestreut habe.

Sie haben dem neoklassischen Tanz eine ganz eigenwillige, sehr gegenwartsbezogene, selbstbewusste, energetisch forcierte Prägung verliehen. Wohin geht Ihre künstlerische Reise? Was erträumen Sie sich? Wie sehen Sie sich selbst? Wie sehr lassen Sie sich auf Experimente ein?

Martin Schläpfer: Falls ich Träume habe, sind es leise Träume – aber in mir festgelegte und fast klare Richtungen, die ich nur durch das eigene Tun definieren kann. Ich bin auf meinem Weg nicht berechenbar. Ich wende häufig, aber selten ohne Grund. Es braucht immer auch Veränderung, andere Entschlüsse, neue Entscheidungen. Meine Ballette baue ich auf dem auf, was war. Ich brauche Vergangenheit. Ich dekonstruiere diese nicht und breche sie auch nicht – aber ich denke, dass ich tanztechnisch an einem Ort angelangt bin, der das gesamte Wissen über den klassischen Tanz und den Spitzenschuh integriert – insbesondere auch die Veränderung der Tanztechnik durch George Balanchine. Manches habe ich aber dazugelegt, neu entdeckt – eine Menge an Möglichkeiten, die sowohl physisch als auch dramaturgisch große Bedeutung für meine Stücke haben können. Auch bin ich ein leidenschaftlicher Lehrer. Ich trainiere meine Kompanie sehr oft selbst, denn hier kann ich in einen besonders tiefen Dialog mit meinen Tänzerinnen und Tänzern treten – mit ihnen als Menschen, als Künstler, aber auch als körperliches „Material“. Immer wieder versuche ich dabei, die Grenzen zu verändern, zu erweitern, aber auch Neues zu formen. Dies macht ein Tänzer natürlich nur mit, wenn er vertraut, spürt und weiß, dass ich mir genau im Klaren darüber bin, was ich tue, und dass die Tanztechnik, der Körper und die Psyche immer meine Basis sind.

Ich glaube nicht, dass ich ein Neoklassiker bin. Ich weiß nicht, was ich bin. Ich träume aber davon, einer Tänzer-Generation – oder auch mehreren – Inspirierer zu sein, zeigen zu können, wie großartig es ist, zu tanzen, und das in einer Bandbreite, die für einen Antony Tudor genauso offen ist wie für einen Sidi Larbi Cherkaoui. Ich glaube, dass nur wissende Tänzer Künstler werden können. Emanzipiert und zeitgenössisch ist man im Kopf – nirgendwo sonst. Modernes wird – falls es gut ist – zur Klassik. Avantgarde verpufft, wenn sie für ihr Entstehen keinen tiefen Grund hat. Für mich kann das klassisch-akademische Schrittmaterial nach wie vor alles ausdrücken, was uns Zeitgenossen bewegt. Es bedingt aber natürlich, dass man die Symbole der Danse d’école, ihre Archetypen kennt, zugleich aber permanent anders mit ihnen umgeht.

Ich habe selten so starke Frauen auf der klassischen Tanzbühne gesehen, ein Umstand, der vermutlich auch mit Ihrem spezifischen Umgang mit dem Spitzenschuh und dem Tanz auf Spitze zu tun hat. Was treibt Sie da an, sowohl künstlerisch-kreativ als auch eventuell gesellschaftspolitisch?

Martin Schläpfer: Was mich antreibt? Nun – ich versuche, Kunst zu machen. Als Künstler darf ich nie bürgerlich sein, nie mir selbst genügen, muss versuchen, das Normale in mir zu verlassen. Das gelingt nicht immer. Es gibt zu viel Selbstgefälligkeit in der Kunst, zu viel Saturiertes, zu wenig Mut und Rebellion. Mich treibt nicht an, zu wissen, warum ich lebe – wir leben. Vielmehr suche ich nach Wegen, das Leben aus dem Dreck zu ziehen, den Menschen zu lieben und bewundern zu können. Gründe dafür gibt es, man kann sie kurz erhaschen, in sich tragen, spüren. Auch wenn das Göttliche – sein Verlust und die Klage darüber – immer wieder Thema meiner Arbeit ist, so scheint mir die Frage, wie intensiv man lebt und wie man zu einer menschlichen, politischen oder kommunikativen Qualität findet, interessanter. Erfüllt zu sein, sagen zu können: „Ich war da, es gibt den Ort, an dem es für mich stimmt, ich mich mag“ – dies ist genug. Aber nichts währt ewig – und so beginnt alles wieder von vorne.

Starke Frauen sind großartig. Mit dem Spitzenschuh sind sie ausgestattet wie mit einem Hammer, der auch vieles andere sein kann, als nur hart oder possessiv phallisch. Da kommt kein Mann dran vorbei. Mich interessiert die Frage, warum Frauen so oft nicht sich selber leben, sich nicht selbst genügen, sehr. Die Frau ohne Kinder ist immer noch selten. Ich mag andere Lebensentwürfe. Zumindest im Kopf, denn anders sind sie vermutlich kaum auszuhalten. Ich tendiere dazu, Frauen zu erhöhen, zu heroisieren, auf der Bühne zu vergöttlichen, weil ich sie zu oft statt ihrer ganz eigenen subjektiven Träume das Andere leben sehe. Das ist natürlich ein Entwurf und keine Realität – aber er treibt mich an.

Sie haben kein Problem, Ihre Mentoren oder besser jene von Ihnen geschätzten Choreografen aus Geschichte und Gegenwart zu benennen, ob George Balanchine oder eben vor allem Hans van Manen. Was bedeutet Ihnen Geschichte und welche kulturpolitische Aufgabe hat ein doch so großes Ensemble wie das Ihre, mit mehr als 40 Tänzer/-innen im Kulturleben einer Stadt und eines Landes.

Martin Schläpfer: Wir sind alle Produkte von Erlerntem, Konditioniertem, aber auch eines genetischen Pools aus unbewussten Ozeanen, den Generationen vor uns in uns eingespeist haben. Deshalb ist Demut wichtig. Ich stehe nicht gerne auf einer Leiter und unter mir sind keine Sprossen. Ich will wissen, worauf ich stehe. Man muss ja nicht dort bleiben, aber man muss die Großen studiert und verstanden haben. Erst dann kann man sich abwenden oder woanders hingehen. Ich erwarte eigentlich von jedem Choreografen, dass er weiß, was war und was ist. Aber die meisten wollen einfach nur choreografieren. Dies ist in meinen Augen zu wenig. Eine Tanzkompanie wie das Ballett am Rhein hat einen Auftrag. Tanz ist eine Sparte, kein „Ein-Choreografen-Betrieb“, auch wenn ich natürlich den Look und die Psyche meines Ensembles bestimme, in dem 44-Jährige genauso unter Vertag sind wie 22-Jährige. Nur so können sich Tanzkünstler, aber auch die Rezeptionsfähigkeit des Publikums und eine größere Breite an Wissen vor allem bei der lokalen Tanzkritik entwickeln.

Ashton, Tudor, Cunningham – die Crème de la Crème aus der Vergangenheit im Repertoire. Wie bringen Sie Geschichte Ihren Tänzer/-innen näher, wie schaffen Sie es, die doch sehr unterschiedlichen Stile, so glasklar auf die Bühne zu bringen. Die „Duncan-Waltzes“, selber öfters gesehen, fand ich bemerkenswert, aber auch die Tudor-Beispiele. Salopp gesagt könnte man auch fragen: Warum tun Sie sich das an?

Martin Schläpfer: Weil ich überzeugt bin, dass wir nur so eine Zukunft im Tanz haben. Nur so wird Wissen bewahrt, bleibt der Tanz am Leben. Man kann doch nicht nur nach vorne sprinten und glauben, das sei genug. Warum noch ein Ballett machen? Es gibt schon so viele – unnötige. Mich das jedes Mal zu fragen, gibt mir oft die Wachsamkeit, dann doch wieder einmal mit einem Stück die Kurve zu kriegen. Wenn wir schon kreieren dürfen und dafür auch bezahlt werden, dann aber bitte intensiv, wach und unruhig.

Für die Einstudierung von Frederick Ashtons „Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“ konnte ich Lynn Seymour gewinnen. Sie ist solch eine großartige Künstlerin! Bei allem, was sie sagt und weiß, aber auch wie sie lebt und denkt, modern ist und doch ein Ballett wie „Les Sylphides“ genauso wie ein gutes Stück eines zeitgenössischen Choreografen lieben kann, ist es kein Wunder, dass meine Tänzerin Camille Andriot in den „Five Waltzes“ so blühen konnte. Natürlich ist es aber auch ein Risiko, herauszufinden, ob die Meisterwerke von früher für uns als Zuschauer, aber auch für die Tänzer-Generation von heute noch standhalten – ein Risiko, das viel größer sein kann, als Sasha Waltz für eine Uraufführung zu engagieren.

Und dann auch noch junge Tänzer aus dem Ensemble und etablierte Künstlerinnen wie Regina van Berkel. Fördern Sie auch aktiv den Choreografen-Nachwuchs und unterstützten Sie da auch künstlerisch oder ist es mehr, Tänzer, Raum und Zeit zu geben für Experimente.

Martin Schläpfer: Natürlich gehört die Generation der zeitgenössischen jüngeren Choreografen auch zu meinem Spielplan – nicht nur die Klassiker der Vergangenheit oder zeitgenössische Meister wie Mats Ek oder Hans van Manen. Das Fördern choreografischer Talente ist ein fester Bestandteil meines Programms. Dabei entscheide ich mich für einen Tänzer im Ensemble, von dessen choreografischem Talent ich überzeugt bin, und binde ihn über mehrere Spielzeiten mit Uraufführungen in den Spielplan ein. Er kann in dieser Zeit lernen, mit einem großen Ensemble, aber auch den Designern, Werkstätten, Ballettmeistern und der Bühne in einem Haus wie der Deutschen Oper am Rhein umzugehen und gleichzeitig z.B. neben einem Hans van Manen in einem Ballettprogramm zu stehen.

Verraten Sie uns noch etwas von der in Angriff genommenen Uraufführung mit der von Ihnen beauftragten Komponistin Adriana Hölszky. Geben Sie vor, was Sie sich wünschen, wie sieht Ihre Kooperation aus und lässt sich zu Struktur (Inhalt) schon etwas sagen?

Martin Schläpfer: Da die Komposition zu „DEEP FIELD“ noch im Entstehen ist, ist es noch zu früh, etwas Konkretes zu sagen, auch wenn ich mich mit Adriana Hölszky, meiner Dramaturgin Anne do Paço sowie meiner Bühnenbildnerin rosalie bereits viele Male getroffen habe. Mein Ziel ist, dass wichtige zeitgenössische Komponisten wieder regelmäßig für den Tanz komponieren. Adriana Hölszky ist eine unglaubliche Musikerin. Was sie schreibt, ist Energie statt Käfig, Archetypus statt Symbol, Urknall statt Geburt, Ritual statt Religion. Ihr Dunkel ist Pechschwarz, ihr Licht die Sonne, ihr Himmel das All. Es ist alles und nichts zugleich. Nie würde ich ihr vorschreiben, was zu tun ist! Jede Musik ist für den Tanz geeignet, auch wenn nicht jede Musik gut genug für den Tanz ist. Adriana Hölszky hat die Zeitparameter, die Länge der Komposition, den inneren Rhythmus und das Verhältnis von musizierten Passagen und solchen, in welche die Stille einkehrt, genau festgelegt.

Ein Chor – besetzt mit dem WDR Rundfunkchor Köln – wird aus dem dritten Rang des Düsseldorfer Opernhauses singen, sprechen und flüstern, das Live-Spiel der Musiker aus dem Orchestergraben sich mit in den gesamten Zuschauerraum verteilten Klangzuspielungen überlagern. Die Bühne muss sehr durchlässig sein. Sie darf uns nicht erdrücken, sondern muss dem Tanz einen unendlichen Raum zur Verfügung stellen. „DEEP FIELD“ ist ein großes Projekt – eine Ausnahme. In Zukunft werde ich sicher auch wieder kleinere Stücke machen, aber – neben allem Performativen, das heute ja blüht – möchte ich herausfinden, ob es noch funktioniert, dass eine Komponistin Musik für ein Ballett von heute schreibt, ob dies dem Tanz einen größeren Stellenwert verschafft und ob es gelingt, die beiden Künste wieder kreativer miteinander zu verbrüdern.

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