Zwischen Aktenstapel und Gesetzestexten

Hans Henning Paars unterhaltsame Kafka-Choreografie „Das Schloss“

Paars Choreografie zeigt, wie menschenverachtend die von Kafka angeprangerte übertriebene Bürokratie sich bis heute zuweilen geriert - und das auf überraschend unterhaltsame Weise.

Münster, 19/01/2014

Die Parallelen des Romanfragments „Das Schloss“ zu Kafkas eigenem Lebensweg sind bekannt − schon allein das Kürzel der Hauptperson „K.“ verweist auf autobiografische Bezüge. Kurz vor Verlöschen der Lichter im Theatersaal flattern manchen Zuschauern unadressierte weiße Briefumschläge auf den Schoß. Darin findet sich in Kopie Kafkas kurzer handschriftlicher Abriss seiner Vita bis zur Anstellung in der italienischen „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“ nach seiner rechtswissenschaftlichen Promotion in Prag. Er hasste diese Anstellung bekanntlich. „Das Schloss“ ist auch eine späte Auseinandersetzung mit dem „Grauenhaften des bloß Schematischen“. Paar schreibt das letzte Kapitel des Romans - K.s Tod - unter leeren, weißen Papierblättern. Ein Hinweis auch auf Kafkas Schreibblockade gegen Ende seines kurzen Lebens? Dann setzt der Choreograf (bedauerlicherweise - nach diesem starken Höhepunkt) noch eins drauf: gleich beginnt die Geschichte von Neuem − immer wieder wird einer in die Fänge der Bürokratie geraten und darin, wenn nicht physisch, so doch psychisch zu Tode kommen.

Dabei beginnt die Inszenierung geradezu fröhlich. Dieser Landvermesser sieht aus wie Peer Gynt − weißes Wams, braune Hose, Hosenträger, Wanderstiefel. Er führt sich auch ein wie Ibsens abenteuerlustiger Weltenbummler. Über die Parkettreihen turnt er, hopst in den Orchestergraben und klettert von dort über eine schwarze Hühnerleiter auf die Bühne in eine andere Welt, wo sich Akten in unzähligen, geschnürten Bündeln stapeln. Übermütig greift er immer wieder in die Hosentasche und wirft silbern glitzerndes Konfetti in die Luft. Leise rieseln die Schnipsel auf den unbekümmerten jungen Mann herab, der von den tristen Zeugnissen unsäglicher Bürokratie offensichtlich nichts wahrhaben will. Was kümmern ihn anderer Leute Regeln, Gesetze, Vorschriften − so scheint's. Nichts deutet hier auf die Eiseskälte des Schneesturms, aus der Kafkas „K.“ in die ärmliche Wirtsstube des Dorfs mit dem mysteriösen Schloss kommt. Selten sind die Widersprüchlichkeiten, Ungereimtheiten greifbar oder das Beängstigende und Bedrückende dieser undurchschaubaren Situation. Nun gut − der Choreograf betont, dass dieses Tanzstück „frei nach…“ entstanden sei. Von Anfang an hat es etwas Unterhaltsames, ist enorm theatral.

Der Schauplatz bleibt immer der gleiche und ist doch in ständigem Wandel. Die Aktenbündel werden Strohsack, Betten, Tische, Stühle, auch Pulte für die Schulkinder. Vom Schnürboden gleiten endlos lange, schmale Leitern herab, in denen Bürohengste hocken und Gesetzestexte deklamieren. Später vermessen sie lange Leuchtstoffröhren und flitzen wie aufgezogene Spielzeugkäfer mit Aktenordner-Köpfen durch den Raum. Türen werden hier und dort aufgestellt und weggetragen. Auf der Hinterbühne dreht sich das Podest mit den Stapeln. Darauf sitzen wie aus Blei gegossen die Dorfbewohner in fahlem Licht. Bald werden sie über den arglosen jungen Mann (frisch und freundlich: Cornelius Mickel) herfallen − der Schwarze und Bürgel (immer wieder frappierend: Tommaso Balbo), Barnabas (schön undurchschaubar: Marcelo Moraes), der unnahbare Lehrer (Vladimir De Freitas Rosa), der fiese Kastellan Klamm (Adam Dembczynski). Die Frauen umgarnen K., Frida (ausdrucksvoll: Anna Caviezel) klammert sich an ihn, um ihrem Vergewaltiger Klamm zu entkommen. Pepi (Priscilla Fiuza) genießt − für den Moment − das schöne Leben an K.s Seite. Die beiden dümmlichen Gehilfen (Maria Bayarri Pérez, Kana Mabuchi) amüsieren als Clowns.

Es sind starke Bilder und dichte Szenen − Duette vor allem von Mickel mit Frida und Pepi, aber auch mit Bürgel. Manches, insbesondere das erste Solo K.s. und gegen Ende der Aufmarsch der Vermessungsbeamten, wird zerdehnt, zumal die Körpersprache nicht allzu abwechslungsreich und zuweilen hölzern ist.

Das Sinfonieorchester unter der Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg meistert Schwerarbeit grandios und beglückt mit berückenden Cello- und Geigen-Soli. Neben elektronischen Einsprengseln wird auch der „Faust“-Monolog „Gretchen am Spinnrad“ in einer wenig poetischen Rezitation eingespielt, als K. seine Frida für die lebenslustigere Pepi verlässt. „Das Schloss“ ist eine enorm aufwändige Inszenierung, die auf dieser Bühne und in der westfälischen Verwaltungsmetropole womöglich besser ankommt als bei der Uraufführung in München. Zumal Kafka hier vor wenigen Jahren schon einmal zu einem Tanzstück anregte. Paar-Vorgänger Daniel Goldin choreografierte in „Tagelang und Nächtelang“ in sehr poesievollen Bildern das Verhältnis des Dichters zu der Journalistin Milena Jesenská.
 

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