Erotisches Spiel der Schatten

Jörg Mannes hat mit Goethes „Wahlverwandtschaften“ erneut ein Stück Weltliteratur in eine Choreografie übersetzt

Mit Tanz zeigen, was zwischen den Zeilen steht, will Choreograf Jörg Mannes.

Hannover, 11/02/2014

Von Alexander Kohlmann

Ein Paar steht nebeneinander und guckt versonnen in die Ebene. Eduard und Charlotte sind seit Jahren harmonisch verheiratet, hier draußen auf dem Land haben sie ihr kleines Reich aufgebaut. Denken und fühlen gemeinsam, während sie die Natur mit Gartenanlagen gestalten wollen. Ihr Tanz ist voller Harmonie, aber wenn sie sich gemeinsam im Kreis umeinander bewegen, bleibt jede Spannung aus. Die Idylle, sie ist nicht von Dauer.

Die Bühne, das ist ein ungebrochener Naturzustand, mit weitem Ausblick und steinernem Steg - und auf der rechten Seite einem großen stilisierten Felsen (Bühne: Mathias Fischer-Dieskau). Auf der linken Seite allerdings haben Charlotte und Eduard bereits Hand angelegt. Eine unfertige, eckige Wand steht da, halb bemalt, halb roh - hier haben zwei versucht, die Natur zu gestalten und zu unterwerfen. Doch mit der Ankunft der Sommergäste ruhen die Arbeiten.

In einem knallgelben Kleid, auf einem halbrunden Steg vor dem Horizont, tänzelt Charlottes Nichte Ottilie in diese Versuchsanordnung. Wenig später erscheint Eduards blau befrackter Freund Otto auf dem Land. Fortan ist nichts mehr wie es war. Die Idylle der naturverbundenen Liebenden ist gestört. Und etwas anderes breitet sich aus.

Wie Insekten in einer Versuchsanordnung lässt Mannes die farblich leuchtend markierten Menschen aufeinander los. Den roten Ehemann Eduard, seine grüne Frau Charlotte, die leuchtend gelbe Ottilie und den blauen Otto. Bereits beim ersten Kennenlernen finden sich im Tanz immer wieder Konstellationen jenseits der tatsächlichen Verhältnisse. Dass in dieser Welt erotische Ausschweifungen verboten sind, zeigen drei riesige Tische, die aus dem Schnürboden herabschweben und die durcheinander wuselnden Menschen fast erdrücken.

Am Tisch schließlich hat jeder seinen Platz. Das Spiel der Körper endet an klar definierten Tischpositionen. Doch mit dem Körperspiel endet nicht die Leidenschaft. Um zeigen zu können, was eigentlich in den Protagonisten vorgeht, hat Mannes einen wunderbaren Kunstgriff gewählt. Eduard, Charlotte, Ottilie und Otto sind nicht nur einmal auf der Bühne, sondern haben jeweils vier Schatten-Tänzer in identischen Kostümen. Und während es den Solisten meistens gelingt, ihre Schattentänzer synchron zu ihrem eigenen Handeln zu halten, brechen in einigen Momenten die Schatten aus. Sie zeigen die unterdrückten, unbewussten Sehnsüchte. Die Dinge, für die an den großen Tischen kein Platz ist.

Schlüsselszene dieser faszinierenden Seelenschau ist der Ehebruch im Ehebett. Während die Verheirateten sich in einem hellen, klaren Lichtstrahl bemühen, beieinander zu bleiben, treiben ihre Schatten ein erotisches Spiel. Charlotte und Otto, Ottilie und Eduard finden sich in sehnsüchtigen Zärtlichkeiten, während die Eheleute sich gleichzeitig nach der alten Harmonie suchend gegenüberstehen. Schon bei Goethe schlafen Eduard und Charlotte miteinander, während sie an Ottilie und Otto denken. In Mannes Fassung sind die Liebesspiele im Ehebruch allerdings so konkret, dass die Grenzen verschwimmen. Es ist nicht mehr ganz eindeutig, was hier real ist.

Im narrativen Tempo eines Kinofilms, begleitet vom Staatsorchester Hannover und der Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Sebastian Bach, gelingt an der Staatsoper so ein Abend von beeindruckender Qualität. Choreograf Mannes schafft ein schillerndes Psychogramm, dem die Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute gebannt zusehen. Obwohl das Setting und die Musik zeitlos und ohne moderne Bezüge daherkommen: mit diesen Vorgängen auf der Bühne können offenbar auch die Paare im Publikum etwas anfangen. Im donnernden, minutenlangen Applaus, beklatschen sie auch ihre eigenen verborgenen Leidenschaften. Und die eigenen nicht sichtbaren Schatten.
 

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