„Fräulein Julie“ von Birgit Cullberg. Tanz: Alessio Carbone, Aurélie Dupont und Michaël Denard

„Fräulein Julie“ von Birgit Cullberg. Tanz: Alessio Carbone, Aurélie Dupont und Michaël Denard 

Zwei Pionierinnen des Handlungsballetts

„Fräulein Julie“ und „Fall River Legend“ von Birgit Cullberg und Agnes De Mille an der Pariser Oper

Für einen der letzten Ballettabende unter ihrer Direktion wählte Brigitte Lefèvre zwei höchst dramatische Werke der Nachkriegszeit.

Paris, 03/03/2014

Zwei Frauen sterben – die eine schreitet dem Tod in einem apokalyptischen Klanggewitter entgegen, die andere verlischt leise wie ihre letzte Hoffnung auf ein Zeichen der Zuneigung von ihrem feige flüchtenden Geliebten. Für einen der letzten Ballettabende unter ihrer Direktion wählte Brigitte Lefèvre zwei höchst dramatische Werke der Nachkriegszeit, Birgit Cullbergs erstmals an der Pariser Oper aufgeführtes Ballett „Fräulein Julie“ aus dem Jahr 1950 und Agnes De Milles „Fall River Legend“ aus dem Jahr 1948, das seit der Pariser Erstaufführung im Jahr 1996 nicht mehr in dieser Kompanie zu sehen war.

Während Strindbergs kompaktes Seelendrama sich relativ gut für eine choreographische Umsetzung zu eignen scheint – so versuchte sich auch beispielsweise Kenneth MacMillan an einem „Fräulein Julie“-Ballett, das nach seiner Premiere in Stuttgart im März 1970 jedoch schnell wieder aus dem Repertoire verschwand – handelt es sich bei De Milles von einer wahren Begebenheit inspiriertem Werk „Fall River Legend“ um ein Thema, das sich wenig in vorherrschende Ballettkonventionen fügte. Es geht darin um die gutbürgerliche Tochter Lizzie Borden, die 1892 in New England beschuldigt wurde, ihre Stiefmutter und ihren Vater mittels zahlreicher Beilhiebe getötet zu haben. Anders als im historischen Fall, in dem die Angeklagte trotz erdrückender Beweislast freigesprochen wurde, entschied sich De Mille in Absprache mit ihrem Komponisten, Morton Gould, das Werk mit der Erhängung der schuldig Gesprochenen zu beenden.

De Mille zeichnet die psychologische Entwicklung der Protagonistin nach dem Tod ihrer Mutter in einem klaustrophobischen Interieur (Bühnenbild: Oliver Smith), in dem die bedrohlich schwarz aufragende Stiefmutter (Stéphanie Romberg) über den willensschwachen Vater (Christophe Duquenne) herrscht. Als die inzwischen herangewachsene Tochter in den schüchternen Annäherungsversuchen des Pfarrers (Vincent Chaillet) einen Ausweg aus der unerträglichen Situation zu entdecken glaubt, wird die Romanze von der Stiefmutter zerstört. Daraufhin greift die junge Frau schließlich zu dem Beil, das neben dem Galgen das Stück als bedrohliches Vorzeichen durchzieht und schon seit Beginn ihrer Einkerkerung einen magischen Reiz auf Lizzie auszuüben scheint. De Milles psychologische Feinfühligkeit erinnert zuweilen an Antony Tudor, dem sie im Londoner Ballet Rambert begegnete, doch ist ihr Stil um einiges expressionistischer. Manche archaische Verzweiflungsposen der Protagonistin (die von Alice Renavand, dienstjüngster Etoile der Pariser Oper, großartig interpretiert wurde) lassen den Einfluss von Martha Graham und Kurt Jooss erkennen, mit deren Arbeit De Mille bestens vertraut war.

Auch für Birgit Cullberg spielte Kurt Jooss eine entscheidende Rolle: durch die Begegnung mit seinem Werk „Der grüne Tisch“ wurden ihr erstmals die gesellschaftskritischen Möglichkeiten des Tanzes bewusst. Cullbergs in Deutschland und Frankreich selten gesehenes Ballett „Fräulein Julie“ zur Musik von Ture Rangström handelt vom Kampf der Klassen und Geschlechter. Zahlreiche stilistische Details wie das animalische Gebaren der Dienerschaft, die Stampfbewegungen und hockenden Posen, die abgeknickten Beine und Füße erlangten später in Mats Eks Balletten große Bekanntheit. Nur Fräulein Julie, als einzige mit Spitzenschuhen versehen, und ihr lila kostümierter Verlobter (Alessio Carbone) sind in ihrem Bewegungsvokabular anfangs noch stark dem klassischen Tanz verhaftet. Während Julie im Lauf des Balletts gebrochen wird wie eine Puppe und sich am Ende mechanisch und hölzern im Coppelia-Stil bewegt, verwandelt sich ihr Verführer, der Diener Jean, von einem sich eckig verbeugenden Hampelmann zu einem triumphierenden Tyrannen, der Julie am Ende gar den Dolch zum „Selbstmord“ führt.

Die Erstaufführung des Werkes an der Pariser Oper war exzellent besetzt, mit Aurélie Dupont als unwiderstehlicher Julie und einem erst unterwürfig kriechenden, dann gefühllos brutalen Nicolas Le Riche als Jean. Selbst in der Mini-Rolle des Vaters war mit Michaël Denard ein ehemaliger Startänzer zu sehen. Gewiss enthalten beide Stücke Längen und manches scheint überholt – beispielsweise Julies Vision der ihren Portraits entsteigenden Ahnen, die dringend entstaubt gehörte (überhaupt ist die Szene des versuchten Schmuckdiebstahls kaum verständlich). Dennoch verdienen es die beiden psychologischen Studien der hierzulande weniger bekannten Choreographinnen durchaus, vor dem Vergessen bewahrt zu werden – insbesondere wenn sie in der Hand so begabter Darstellerinnen wie Alice Renavand und Aurélie Dupont ihre packende Wirkung entfalten können.
 

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