Politische Visionen
Mario Schröder zeigt zum Abschied seine Version des Ballettklassikers „Giselle“ mit dem Leipziger Ballett
Mario Schröders „Mozart Requiem“ in Leipzig wächst zum Gesamtkunstwerk
Es war ein Abend, über dem spürbar der Geist eines Uwe Scholz schwebte. Ein Abend der großen Form in Tanz, Musik und dem, was beide zusammen künstlerisch ausrichten können. Mario Schröder hat sich dazu mit zwei Künstlern verknüpft, die Jahrhunderte trennen und doch eine Suche eint: die nach Antworten auf Fragen um die letzten Dinge. Da ist Mozarts „Requiem“ von 1791, ein Meisterwerk voll Klage, Trauer, aber auch voll des Aufbegehrens gegen den Tod. Und da ist das Œuvre eines Pier Paolo Pasolini, Regisseur, Dichter, scharfzüngiger Kritiker der italienischen Nachkriegsverhältnisse. Der eine zu früh gestorben, wohl an Syphilis, der andere, ebenfalls relativ jung, brutal ermordet. Schröder lässt sie in den 80 Minuten seiner „Mozart Requiem“ benannten Vision in Dialog treten, jeder mit seinem speziellen Kunstgenre.
Mit einem eindringlichen Bild beginnt der Abend auf der Bühne der Leipziger Oper. Unter zwei nach vorn offenen Karrees aus weißen Neonröhren hängen in Andreas Auerbachs ansonsten schwarz ausstaffiertem Raum Tänzer unisex in weißen Tutus: schwebende Wolken gestorbener Seelen. Als einziger Klang begleitet sie unerbittlich das Ticken von Metronomen, als würde die Zeit des Lebens in gleiche Einheiten zerlegt. Fahrig gestikulieren die Seelen; auf einer Leinwand hinter ihnen müht sich, mehrfach wiederholte Sequenz aus Pasolinis „Teorema“, ein einsamer Mann eine staubige Halde herunter. Da setzt mit dem Introitus, der Chor zu beiden Seiten des Proszeniums gestaffelt, das „Requiem“ ein. Und auch der Kampf zwischen Leben und Tod. Eine der Seelen schleift einen Menschen, hinter der Leinwand tanzen und drängen sich als Silhouetten Wesen, noch Menschen oder schon Schatten Verstorbener. Zu jedem Teil des Grabgesangs wechseln die Röhren ihre Hängeposition und rahmen so den Tanz. Zäsuren setzen live eingesprochene Texte aus Pasolinis Gedichtband „Die Nachtigall der katholischen Kirche“, auch sie ein fiktiver, metaphorisch aufgeheizter Dialog zwischen Leben und Tod, hier zudem Brücke für die choreografischen Erfindungen.
In ihnen tanzen etwa der Reihe nach vier Männer in Schwarz mit einer angstvollen Frau den Tanz des Todes, werfen sie riskant in eine ganze Gruppe Schwarzgewandeter hinein. Zum Video eines schlafwandlerischen Pas de deux, vervielfacht auf Leinwand und Kurtine, tanzt auf der Szene verloren ein Paar, als wate es im Wasser der Erinnerung, das Pasolinis Lyrik heraufbeschwört. Wiederholt arbeitet Schröders Choreografie auch mit chorischen Gliederungen, die von seinem Mentor Scholz inspiriert sind und doch zu eigener Aussage führen. So grundiert im Lacrimosa ein Fries aus Männern, die ihre Partnerinnen ziehen, schieben oder lastähnlich schleppen, ein flinkes Duett im Vordergrund: Leben, hinter dem bereits das Ende lauert. Entlang einer Diagonale fallender Frauen tragen dann die Männer einen Gekreuzigten, wie Pasolinis Gedicht ihn assoziiert. Orientiert sich Schröder oft im Einsatz seiner tänzerischen Gruppen an den Stimmgruppen des Chors, durchbricht er dieses Prinzip im Sanctus: Urania Lobo Garcia wird zur stumm schreienden Kreatur über alle Stimmlagen hinweg und dann, vielleicht der stärkste Teil des Abends, zum Spielball einer weißen und einer schwarzen „Seele“, Pasolinis lachendes Kind auch im Lauschen auf Mutters Gesang. Abgesenkte Spiegel dreht der Schwarze, ehe sie dem Weißen sein Antlitz, das des Todes, zeigen könnten, der Höhepunkt dieses kämpferisch virtuosen, so emotionalen Duetts der „Seelen“ Tyler Galster und Nikolaus Tudorin zum Benedictus.
Zum Agnus Dei machen vier Rotgekleidete mit Perpendikel-Armen Laura Costa Chaud als „Lamm“ ihre Endlichkeit klar. Es ist dann Alessandro Zuppardo, Sprecher der Gedichte, zudem Leiter des exzellenten Chors, an den sich das „Lamm“ schmiegt und der es in die Tiefe hin zum Licht führt, derweil in Gestalt vieler Rotgewandeter das Leben um sie pulsiert. Alle Gestalten, auch die in den Tutus des Anfangs, liegen zum Finale auf der Szene, rechts wartet ein Neugeborener schon auf sein Schicksal. In einer seiner besten Kreationen hantiert Schröder souverän mit dem Raum, inszeniert 32 Tänzer in formal großer, teils rasanter Vielfalt und verlangt ihnen klassisch basiertes, exzessiv den Mittelkörper einbeziehendes Bewegungsmaterial ab. Unter Jeremy Carnall ist das Gewandhausorchester mit seinem beseelten Klang maßgeblich an diesem Gesamtkunstwerk beteiligt, das auch durch überlegene Lichtregie besticht.
Wieder 16.3., 6., 21., 26.4.
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