Der Ballettdirigent André Presser
Der Ballettdirigent André Presser

Die Augen auf den Füßen der Tänzer

Der Ballettdirigent André Presser ist tot

Am 3. April 2014 starb in Den Haag der Ballettdirigent André Presser. Der 80-Jährige erlag einem Lungenversagen aufgrund einer schon seit vielen Jahren mit großer Geduld ertragenen chronisch-obstruktiven Bronchitis.

Den Haag, 07/04/2014

Mit André Presser verliert die Ballettwelt einen Dirigenten, der sich selbst und die Musik immer in den Dienst eines Gesamtkunstwerks auf der Bühne gestellt hat. Das Orchester gehörte für ihn dazu wie die Tänzer selbst und das Bühnenbild. Wie kaum ein anderer ahnte er voraus, welches Tempo Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne brauchen, die Augen stets auf den Füßen der Tänzer und doch das Orchester immer im Blick und im Griff. Mit dem legendären Rudolf Nurejew verband ihn eine enge Freundschaft – eine Gunst, die der Tänzer selten gewährte. André jedoch, „Karotte“, wie ihn Nurejew aufgrund seiner roten Haare nannte, rief er als Dirigent in den Orchestergraben, wann immer es möglich war.

André Presser wurde am 12. September 1933 in Amsterdam geboren. Sein Vater, jüdischen Ursprungs, war Schuhvertreter und Kabarettist, seine Mutter Hausfrau und Kassiererin in einem Revue-Theater. Während der deutschen Besatzung lassen sich die beiden trotz ihrer großen Liebe scheiden – um die Kinder zu schützen. Aber Andrés Vater, im Untergrund gegen die Nazis aktiv, wird verhaftet, gefoltert und schließlich nach Auschwitz deportiert, ebenso andere Mitglieder aus der Verwandtschaft väterlicherseits. Keiner von ihnen überlebt. Das erfährt André jedoch erst viele Jahre später. Die Kriegsjahre, die seine Familie unter großen Entbehrungen übersteht, haben sich ihm tief eingeprägt.

Bei einer Nachbarin bekommt André Klavierunterricht, und schon schnell stellt sich heraus, wie begabt er ist. Er wird auch ohne normalen Schulabschluss ans Konservatorium aufgenommen und verdient sich nebenher ein Zubrot als Pianist in Ballettschulen, womit er unbewusst die Weichen für seine Zukunft stellt. Am Konservatorium ist es nämlich verpönt, sich als ernstzunehmender Musiker mit solchen „Hupfdohlen“ abzugeben. André hat deshalb von Anfang an den Stempel eines „Ballettpianisten“, den man nicht wirklich ernstzunehmen hat. Ein Stigma, das ihm auch später in seiner Dirigentenlaufbahn anhaften wird. „Ich bin der beste Musiker unter den Tänzern und der beste Tänzer unter den Musikern“, pflegte er scherzhaft zu sagen. Und doch hat er zeitlebens darunter gelitten, als Dirigent und Musiker in der Welt der Musik nie wirklich ernstgenommen zu werden. Er sei ja „nur Ballettdirigent“ war das Schimpfwort, das er nur allzu oft hören musste. Er wurde einer der besten, den die Welt des Balletts je hatte.

Um Geld zu verdienen, nimmt André 1957 ein Angebot von Sonia Gaskell an, die damals als Direktorin des 1954 gegründeten Niederländischen Balletts einen Pianisten suchte. Fortan begleitet er die Truppe bei Proben und Auftritten, arbeitet mit den großen Choreografen seiner Zeit: Leonid Massine, David Lichine, George Skribine, Serge Lifar. Im Mai 1961 kommt seine große Chance: der normale Dirigent des Balletts kann bei einem Gastspiel im Gran Teatro del Liceo in Barcelona das Orchester wegen anderer Verpflichtungen nicht leiten – André, der schon am Konservatorium Dirigieren studiert hatte, springt ein.

Es wird der Beginn einer großartigen Karriere, die ihn durch die ganze Welt führt. Es gibt wohl kaum ein großes Opernhaus, in dem er noch nicht gastiert hätte. Bis zum Ende seiner Laufbahn im Frühjahr 2010 wird er weltweit über 4500 Vorstellungen von insgesamt 134 Werken dirigieren (die Klassiker darunter in gleich mehreren verschiedenen Fassungen) – es gibt weltweit sicher keinen Dirigenten, der über derart umfangreiches Ballettrepertoire verfügt.

Nach dem Rauswurf aus dem Niederländischen Ballett im Sommer 1977 aufgrund von Intrigen engagiert ihn Patricia Neary, die ihn zuvor als Primaballerina bei verschiedenen Gastspielen erlebt hat, im Sommer 1978 als Chefdirigent zum Zürcher Ballett. 1990 wirbt ihn Konstanze Vernon ab, die ihn als fähigen Partner im Graben schon aus der legendären „Giselle“-Produktion mit Heinz Bosl in München kennt. André wird Chefdirigent beim Bayerischen Staatsballett, dem er bis 2001 treu bleibt. So ganz setzt er sich aber noch nicht zur Ruhe. In den anschließenden Jahren wird er immer wieder als Dirigent für die großen Klassiker und vor allem für Galas geholt, von John Neumeier zum Hamburg Ballett, aber auch von Vladimir Malakhov zum Staatsballett Berlin oder von Birgit Keil nach Karlsruhe. Ballett-Direktoren und Tänzer wissen Andrés Qualitäten zu schätzen: mit ihm im Graben geht keine Vorstellung schief, alles sitzt auf dem Punkt, keiner muss um das Tempo bangen. Denn letztlich entscheidet das Können des Mannes im Graben, ob Tänzerinnen und Tänzer ihre Kunst auf der Bühne wirklich entfalten können.

Auch die Musiker, sonst eher wenig motiviert, wenn es um Ballettaufführungen geht, spielen anders, wenn André dirigiert: mit ihm am Pult sind selbst die größten Schmachtfetzen unter den Ballettkompositionen schöne Musik. Weil André wie kein anderer es versteht, die Musiker zu Höchstleistungen anzuspornen – mit Witz, Sarkasmus, und vor allem mit Können.

Am 20. März 2010 beendet er aus gesundheitlichen Gründen seine nunmehr 50-jährige Bühnen-Karriere mit „La Sylphide“ beim Hamburg Ballett. Vor der Vorstellung erwartet den verblüfften André noch eine Überraschung: Er wird auf die Bühne gebeten, wo ihm der niederländische Kulturattaché eröffnet, dass die niederländische Königin Beatrix ihn zum Ritter des „Ordre von de Neederlandse Leeuw“ ernannt hat – eine große Ehre.
In seinen letzten Lebensjahren lebt er zurückgezogen in Den Haag. Seine Krankheit erlaubt ihm keine Reisen mehr. Jetzt hat sein Herz aufgehört zu schlagen.

Hinweis:
Im Jahr 2008 erschien André Pressers Biographie: „Der Ballettdirigent“ im Verlag Rüffer & Rub. Das Buch ist zwar vergriffen, Interessenten können sich jedoch an pressebuero@annettebopp.de wenden.

 

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