Dem Archiv lauschen

Thom Hechts „Dancing Archives – Archive Dances“

Statt Geschichte zu schreiben, will Hecht Geschichten erzählen – und das sind nicht wenige, die sich um die drei Kapitel zu der Biologie-Studentin und leidenschaftlichen Tänzerin Eleanor Stabler Brooks, zu der Tanzlehrerin Katharine Schroeder und zu den tanzenden Männern am Radcliffe College spannen.

München, 11/04/2014

Die Herbstsonne strahlt und während Thom Hecht eine Laptoptasche auf seiner rechten Schulter balanciert, blinkt auf seinem iPhone das Navigationssystem. Sein Ziel: die Radcliffe College Archives. So beginnt Thom Hechts Annäherung an ein Stück britischer Tanzgeschichte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit seiner Dissertationschrift „Dancing Archives – Archive Dances“ begibt er sich auf eine Suche, in der es weniger um Tanzgeschichten geht, als darum, archivische Strukturen und Forschungsprozesse zu beleuchten. Die Methode nennt sich ‚archival storying‘.

Statt Geschichte zu schreiben, will Hecht Geschichten erzählen – und das sind nicht wenige, die sich um die drei Kapitel zu der Biologie-Studentin und leidenschaftlichen Tänzerin Eleanor Stabler Brooks, zu der Tanzlehrerin Katharine Schroeder und zu den tanzenden Männern am Radcliffe College spannen. Allesamt eher historische Minderheiten, denen Hecht Platz gibt. Nach den in der Geschichte wichtig gewordenen Namen dieser Zeit sucht man vergeblich. Neben Isadora Duncan oder den Ballets Russes, die damals zu den wichtigsten Tanzerneuerern zählen, wird Platz geschaffen für Minderheiten im historischen Diskurs (was gerade in Amerika auch gerne mit der Methode ‚Oral History‘ gemacht wird).

Die wichtigsten Erkenntnisse speisen sich aber nicht aus jenen Tanzgeschichten des Radcliffe Colleges, sondern aus dem Umgang mit den dazugehörigen Dokumenten und Inhalten: Wie man eine Geschichte, die im Archiv gefunden wurde, eben nicht durch ihre Bearbeitung und Veröffentlichung abschließt. Stattdessen greift Hecht diese heraus, bringt sie in neue Kontexte, interpretiert und lässt Raum für weitere Beschäftigungen und andere Perspektiven.

Er rekonstruiert ein Stück Historie, indem er seine eigene Geschichte des Forschungsprozesses in den Mittelpunkt rückt, statt der Chronologie einer kanonisierten Tanzgeschichte oder die des Radcliffe Colleges zu folgen. Dabei erhält der Leser tatsächlich Einblick in langwierige, glückliche und manchmal weniger glückliche Suchen im Bibliothekskatalog und in die Strukturierung von Archiven – und kann so die Recherche am eigenen Leib erfahren, was beim Thema Tanz ja naheliegend erscheint, oft diskutiert und ausprobiert wurde. Hecht will Geschichte verlebendigen, und das gelingt ihm. Im Nu liest man das 200 Seiten starke Buch.

Das einzige Manko dieser Form des Erzählens ist der Inhalt. In Hechts Tanz mit dem Archiv, wie er es selbst beschreibt, ist zwar die Spur, die er zwischen den Dokumenten und Geschichten hinterlässt, klar erkennbar, doch welche Bewegungen ihn zu dieser Spur brachten, zeichnen sich nicht ab. „Dancing Archives – Archive Dances“ bleibt letztlich mehr eine Geschichte des Archivs als die des Tanzes, und seine Geschichten mehr Anekdote als Erkenntnis.

Er lauscht dem Archiv, dokumentiert seine Geduld und sensibilisiert dadurch den Blick auf Geschichte, die immer erst in der Rückschau geschrieben und konstruiert wird. Was im Gedächtnis hängen bleibt, ist seine persönliche Suche und nicht die Tanzgeschichten. Hecht weckt einen detektivischen Spürsinn, der einem als Forschenden beim vorsichtigen Öffnen des alten Buchdeckels oder dem ersten Griff zu der mit Fotografien prall gefüllten Schachtel immer wieder überkommt, und schürt die Entdeckerlust für eine Zeit, die vergangen ist und sich doch immer wieder aufs Neue erzählen lässt.

 

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