Reflexe und Reflexionen

Tanz!Heilbronn eröffnet mit Wim Vandekeybus' „What the body does not remember”

Was der Körper nicht erinnert, das wollte der 24-jährige Belgier Wim Vandekeybus 1987 mit seiner zehnköpfigen Truppe herausfinden. Eigentlich hatte er Schauspieler werden wollen. Weil das nicht auf Anhieb klappt, macht er einen sechsmonatigen Crash-Kurs in moderner Tanztechnik.

Heilbronn, 27/05/2014
Ein dunkler Raum, Lichtbahnen ziehen sich quer über den Boden. Zwei Tänzer gehen suchend im Streifen-Muster aus Licht und Schatten hin und her. Sie legen sich hierhin oder dorthin, wie jemand, der sich einen geeigneten Schlafplatz sucht. Eine Frau kommt hinzu, setzt sich an einem kleinen Tisch, den sie mit Unterarmen, Händen und Fäusten traktiert. Aus ist es mit der Ruhe, wenn diese Tischplatte in Schwingung versetzt wird. Sie verstärkt selbst die zarteste Berührung. Das Streifen und Kratzen wird zum Sturm, Schlagen und Trommeln zu Blitz und Donnergrollen. Reflexartig saugen die am Boden liegenden Männer die Klangsensationen auf und setzen sie in Bewegungsenergie um: Sie brechen zusammen, rollen, stoppen im Liegestütz, fallen und springen horizontal um die eigene Körperachse. Zuckende, wie vom Blitz getroffene Leiber, die über die Geräusche der Frau gesteuert zu sein scheinen.

So beginnt sehr eindrucksvoll das Eröffnungsgastspiel des Festivals Tanz!Heilbronn: „What the body does not remember”. Was der Körper nicht erinnert, das wollte der 24-jährige Belgier Wim Vandekeybus 1987 mit seiner zehnköpfigen Truppe Ultima Vez (Das letzte Mal) herausfinden. Eigentlich hatte der 1963 in Herenthout (Belgien) geborene Sohn eines Tierarztes Schauspieler werden wollen. Weil das nicht auf Anhieb klappt, macht er einen sechsmonatigen Crash-Kurs in moderner Tanztechnik. Er findet daran Gefallen, nicht zuletzt weil er beim Tanztraining Ähnlichkeiten mit Reaktionen, Bewegungen und dem Vertrauen in die Körperkraft der Tiere entdeckt.

„Die Intensität dieser Augenblicke, wenn man keine andere Wahl hat, wenn über deinen Kopf hinweg entschieden wird, wenn man verliebt ist oder in der entscheidenden Sekunde vor dem unvermeidlichen Unfall - plötzlich tauchen sie auf, einfach so.“ - sagt Vandekeybus über jene Augenblicke, in denen sich die Reflexe direkt manifestieren. Eine Reaktionsschärfe, die aus dem limbischen System gespeist, animalisch-kreatürliche Qualitäten offenbart, die die Tanzstücke des Belgiers in besonderer Weise prägen.

Das Debüt von Ultima Vez und Wim Vandekeybus versetzt die Tanzwelt in Erstaunen. In New York wird ihm sowie den beiden Komponisten Thierry de Mey und Peter Vermeersch für diese „brutale Konfrontation von Tanz und Musik“ der renommierte Bessie Award verliehen. In neuer Besetzung geht die Aufführung im Jahr 2013 wieder auf Tournee. Nach 25 Jahren hat sie nichts an Frische und tänzerischer Kraft verloren. Ob Steine geworfen, gefangen, als Weg oder Säule genutzt werden; ob zwei Stühle zum Zentrum von Gruppenbildern werden; ob in einem wilden Auf und Ab Jacketts und Handtücher geklaut und getauscht werden oder durch die Luft fliegen - dem Wechselspiel von Highspeed und Stillstand, von Chaos und Ordnung, von Reflex und Reflexion könnte man ewig zuschauen, zumal die neun Ensemblemitglieder neben fabelhafter Tanztechnik und grandioser Geistesgegenwart eine gehörige Portion Witz mitbringen.

Das Heilbronner Publikum ist zunächst wie gebannt. Zuschauern mit traditionellem Tanzverständnis erscheint der Stil, der bis an die Grenzen der Erschöpfung geht, „gewöhnungsbedürftig“. Der Applaus steigert sich und die Hälfte im ausverkauften Großen Haus erhebt sich vor der künstlerischen Leistung – zu Recht, denn das Stück hat in knapp dreißig Jahren an Reife und Überzeugungskraft gewonnen.

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