Mit praktischem Lebenssinn

Neuerscheinung: Ingeborg Schiffner – Berliner Tanzpädagogin mit Leib und Seele

Tanz-Geschichten, wie sie Volkmar Draeger über Ingeborg Schiffner höchst anschaulich und informativ zu erzählen vermag, lassen viele Aspekte der Künstler- und Zeitgeschichte als Tanzgeschichte in vier politischen Systemen lebendig werden.

Berlin, 23/07/2014

Tanzgeschichte tradiert sich im kenntnisreichen Schreiben und Sprechen über Tanz. Tanz-Geschichten, wie sie der renommierte Tanz-Kritiker Volkmar Draeger über die Tänzerin, Pädagogin und Choreografin Ingeborg Schiffner höchst anschaulich und informativ zu erzählen vermag, lassen auf 240 Seiten viele Aspekte der Künstler- und Zeitgeschichte als Tanzgeschichte in vier politischen Systemen lebendig werden.

Das Covermotiv zeigt Ingeborg Schiffner 1975 umringt von jungen Mädchen beim Unterricht in der Musikschule Berlin-Mitte in der Gipsstraße. 1963 hat die 38jährige ihre Berufung zur Abteilungsleiterin/Tanz erhalten; bis zur Pensionierung 1984 wirkte sie als eine begnadete Pädagogin an der ‚Kaderschmiede‘ für die drei Staatlichen Ballettschulen der DDR, „der man achtungsvoll nachsagte, sie bringe jeden zum Tanzen“. Einige Eleven haben den Tanz später selbst zum Beruf gemacht, viele andere werden sich Dank der Lektüre liebevoll an die Übungen im kleinen Ballettsaal, die Proben, die Tänze, die Auftritte und das Lampenfieber erinnern.

Als 16Jährige geht sie von Zittau an die Eduardowa-Schule nach Berlin-Charlottenburg, bekommt im gleichen Jahr ein Stipendium an der Wigman-Schule in Dresden und absolviert dort 1940 erfolgreich die Tänzerprüfung, schnuppert Theaterpraxis in Reichenberg, bis der Spielbetrieb eingestellt wird. Im Juli 1945 tanzt und unterrichtet sie am wiedereröffneten Stadttheater Zittau, wechselt im April 1946 zur von Henn Haas begründeten ersten deutschen Bühne für Tanzdramatik „Theater des Tanzes“ Weimar/Erfurt, tanzt durch Nachkriegs-Thüringen (teils mit eigenen Kammertänzen an Kurt Jooss und Mary Wigman orientiert), erhält 1949 einen Vertrag für Jean Weidts „Dramatisches Ballett“ an der Volksbühne Berlin. Ab 1952 formt sie das Ballett beim „Erich-Weinert-Ensemble“ der Nationalen Volksarmee der DDR, leitet es bis 1959, führt es zu großer Anerkennung und wird mit zahlreichen Staatspreisen geehrt.

Ingeborg Schiffner verfügt von Jugend an über einen „praktischen Lebenssinn“ - ihre Beharrlichkeit, Herzlichkeit und ihr sprühender Elan ließen sie viele Chancen erkennen und für sich und andere nutzbar machen. Der Imperativ des Buchtitels bringt diesen tanz- und lebenstauglichen Grundsatz der Schiffner zum Ausdruck. Sie hat nie aufgehört zu lernen, hat viele künstlerische Projekte initiiert, sich eine kritische Haltung zu künstlerischen wie politischen Entwicklungen bewahrt. Volkmar Draeger würdigt aus eigener langjähriger Verbundenheit ihre „umfassende Menschlichkeit“. Dem Autor gelingt es Lebens-, Tanz- und Zeitgeschichte spannend in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, so dass aus der Rückschau vor allem ein eindrucksvolles Bild von den zahllosen kulturellen Aktivitäten im Kinder- und Jugend-Amateurtanz der DDR (Arbeiterfestspiele, Tanzfeste in Rudolstadt, Werkstatt Showtanz, Tanzkonferenzen) lebendig und im genau analysierten, gesellschaftlichen Kontext ins Heute gerückt werden. Im Fokus besonders Ingeborg Schiffners intensive Mitarbeit im allgemeinen System „Spezialschule für Leiter des künstlerischen Volksschaffens“ seit 1964. „Die bezirklichen Kulturakademien, ebenso Teil des jeweiligen Hauses für Kulturarbeit, veranstalteten dieses auf drei Jahre terminierte Fernstudium, an dem jeder, ob Profi- oder Amateurtänzer, teilnehmen kann, der schon eine Laiengruppe leitet und sich ‚nur‘ qualifizieren will oder zukünftig Lehrer sein möchte“.

Detailreich beschreibt Draeger aus eigener Tänzererfahrung die Entwicklung des „Studio-Ballett Berlin“ (seit 1976 eng verbunden mit den künstlerischen Aktivitäten im „Palast der Republik“) zu einer führenden Amateurgruppe des Landes von der Gründung 1968 bis zum Zerfall 1990. Auch hier steht Ingeborg Schiffner für langen Atem und künstlerische Kreativität. „Vielen war sie allzeit mütterliche Stütze, manchen unter ihnen eröffnete sie Wege in den Beruf, allen aber vermittelte sie so kostbare Eigenschaften wie Disziplin, Berufsethos, Pflichtbewusstsein und ein Gefühl für den anderen neben uns, im Tanz wie im Leben“.

Das Buch erzählt Tanz- und Zeitgeschichte(n) in präziser Formulierung und ermöglicht eine Neuentdeckung und Bewertung der eigenen Tradition; erhellend für Weggefährten wie Nachgeborene. Draegers Publikation spricht mit großem Sachverstand und Empathie von Schiffners engagiertem Leben durch vier Gesellschaftssysteme: „von der schwachen Weimarer Republik, ins Dunkel des Nationalsozialismus (…) dann in den anfangs lichten Sozialismus mit seiner fatal enttäuschten Volksbegeisterung und schließlich in den überwunden geglaubten Kapitalismus, dem sie äußerst reserviert gegenübersteht“. Das Buch ist ein Lebensbericht im genau kommentierten Kontext des Zeitgeschehens. Draeger gelingt eine bewegende Hommage an ‚INGE‘, die unzähligen Kindern und Jugendlichen die Liebe zum Tanz vermittelt hat. Sie starb am 26. April 2012 in Berlin; am 19. Juli 2014 wäre ihr 90. Geburtstag.


Volkmar Draeger. “Durch, durch, durch! Ingeborg Schiffner: Tänzerin, Pädagogin, Choreografin“, Autumnus Verlag 2014, ISBN 978-3-944382-06-7

 

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