Drei Nackte für Tino Sehgal

„(Ohne Titel)“ bei der Ruhrtriennale

Dies ist keine Premierenkritik, sondern ein Erlebnisbericht; denn Tino Sehgal besteht darauf, dass sein Werk in keiner Form dokumentiert, sondern ausschließlich erlebt werden soll.

Duisburg, 31/08/2014

„Der ist ja ganz nackig!“ rief der Steppke seinem Freund laut zu und rannte die kleine Anhöhe im Landschaftspark Duisburg-Nord runter auf die Spielfläche zu, um die sich eine Menschentraube drängte und Frank Willens bei seinem Solo „(Ohne Titel)“ von Tino Sehgal zuschaute. Mit dicken Jacken unter den Regenhäuten standen die meisten Zuschauer um das rund zehn mal zehn Meter große Karree auf dem Schotterplatz zwischen den rostenden Giganten des abgewrackten Stahlwerks, die nun gerade bei Einbruch der Dunkelheit nach und nach immer geheimnisvoller bunt leuchteten.

Mit größtem Ernst und sportiver Verve führte der kalifornische Wahlberliner Willens durch die Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts mit Häppchen von Nijinsky, Mary Wigman, Martha Graham und Neoklassischem (fast) wie von George Balanchine, legte kontemplative Atempausen ein, marschierte beherzt über den Schotter, mal nach links, mal nach rechts und begann, während er eine ziemlich alberne Daumenchoreografie zelebrierte, eine Konversation mit den Ruhrtriennale-Besuchern. Den mittendrin stehenden Sehgal fragte er: „Na, wie bin ich? Wollest du es so sehen?“ Der versicherte: „It's okay!“

Nach einer Dreiviertelstunde kam der so sehr entbehrliche, absichtsvoll schockierende Clou, auf den man schon vorbereitet war nach der (fast) gleichen Performance von Andrew Hardwidge im unwirtlichen Ambiente der riesigen Kraftzentrale nebenan (mit miserabler Sicht für die Mehrheit des Publikums): der Tänzer, nun sehr dekorativ exakt in der Mitte der Tanzfläche postiert, wedelt mit dem Penis, streckt, reckt und knautscht ihn, versetzt den Hoden kleine Klapse und zieht deren Haut über den Schwanz. Dann pinkelt Willens in die Nacht hinein. Glitzernd perlen die Tröpfchen im hohen Bogen im Scheinwerferlicht durch die Dämmerung. Applaus, Applaus.

Aber es war auch Unmut zu hören: „Wir machen jetzt 10-15 Minuten richtige Pause - da können Sie sich mal die Beine vertreten und was essen oder trinken!“ fordert der Ruhrtriennale-Wächter die mißmutig Wartenden jovial auf. „Beine vertreten? Ha! Grad' haben wir uns zwei Stunden lang die Beine in den Bauch gestanden und sind total durchgefroren. Ich brauch' einen Stuhl und einen Grog!“ schimpft eine Dame. „Eine Zumutung ist das“ grummelt eine andere. Aber viele beißen dann doch munter in den fetttriefenden Snack und schlürfen das Bier aus der Flasche - oder den Rotwein aus edlen Glaspokalen.

Boris Charmatz als Dritter im Bunde dieses „Solo, drei Variationen“ setzt anschließend in der Gießhalle der weitläufigen Industrieanlage noch eins drauf. Affenartig hangelt er sich über die Backsteinmauern, springt von seiner Balustrade in den Graben und hinauf auf die Zuschauertribüne, reißt Witze, brilliert mit blitzenden Augen und unwiderstehlichem Charme als Tänzer-Entertainer und kann sogar vielstrahlig pinkeln.

Wie schrieb doch gerade ein australischer Kunstkritiker so treffend über Sehgals jüngstes Opus „This is So Contemporary“ in Sidney? „Klar, es ist provokativ, und vielleicht ist es Kunst, aber es ist in jedem Fall irritierend!“ Das trifft's generell - Berliner Bär 2013 und Goldener Löwe der Kunstbiennale Venedig als bester Künstler für den 38-jährigen Deutsch-Briten mit indischen Wurzeln hin oder her.
 

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