„Giselle“ von Jutta Ebnother

„Giselle“ von Jutta Ebnother

Zum richtigen Zeitpunkt

Jutta Ebnother begeistert mit ihrer Version des Klassikers „Giselle“

Kaum zu glauben, zehn Jahre sind vergangen, seit Jutta Ebnother die Leitung der Kompanie des Theaters in Nordhausen übernommen hat. In dieser Zeit hat sie dem Tanz ein treues Publikum geschaffen.

Nordhausen, 12/10/2014

Kaum zu glauben, zehn Jahre sind vergangen, seit Jutta Ebnother die Leitung der Kompanie des Theaters in Nordhausen übernommen hat. In dieser Zeit hat sie dem Tanz ein treues Publikum geschaffen und ein Ensemble zusammengeführt, das in unterschiedlichen Stilen besteht, dessen Tänzerinnen und Tänzer auch andernorts, etwa bei immer beliebter werdenden Gala-Formaten, gern gesehene Gäste sind.

In der Spielzeit 14/15 ließ sie sich überzeugen, eine eigene auf die Möglichkeiten der Kompanie zugeschnittene Fassung von „Giselle“ zu kreieren. Nach der ausgesprochen erfolgreichen Premiere ist klar: das richtige Stück zum richtigen Zeitpunkt in einer überzeugenden Fassung und vor allem deshalb, weil jede Tänzerin und jeder Tänzer gute Gelegenheiten bekommt, die individuellen Qualitäten zu präsentieren. Und diese Chancen lässt sich niemand entgehen.

Wichtig war für Jutta Ebnother auch die Möglichkeit, das Stück zu live gespielter Musik aufzuführen. Mit Michael Ellis Ingram hat sie einen Dirigenten, der es vermag, sich auf den Tanz einzulassen und den Mitgliedern des Loh-Orchesters Sondershausen zu vermitteln weiß, wie differenziert diese Musik zu interpretieren ist. Somit gibt es ein sicheres Fundament der Klänge für das so phantastische und berührende Geschehen auf der Bühne, einer Geschichte um Schuld und Vergebung, Leben, Verrat, Betrug und Tod, und letztlich immer wieder neuen Chancen kraft der Visionen unsterblicher Liebe. Romantik pur, zunächst die ländliche Idylle mit Brüchen, dann das phantastische, nächtliche Reich der Wilis, in dem Tote und Lebende in der Fantasie des Tanzes kommunizieren können.

Völlig klar, bei zwölf Tänzerinnen und Tänzern muss die originale Handlung modifiziert, müssen entsprechende Gewichtungen gesetzt werden und dennoch darf der von der Musik vorgegebene Anspruch nicht verloren gehen. Das gelingt. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen hier zwei Männer und zwei Frauen, wobei Bathilde, die Verlobte Albrechts, auch die Myrtha, die Königin der Wilis ist - jener jungen Bräute, die an gebrochenem Herzen tanzend gestorben sind. Das macht Sinn und stellt eine nachvollziehbare Verbindung zwischen den tragischen Erfahrungen von Giselle und Bathilde dar, allerdings mit dem Unterschied, dass letztere ihren in Rache umgeschlagenen Schmerz nicht überwinden kann. Herzog Albrecht ist hier ein aufs Land geflüchteter Aussteiger, allseits anerkannt und beliebt, und verliebt in Giselle, die seine Gefühle erwidert.

Die Person des Hilarion wird spürbar aufgewertet. Er ist Giselles bester Freund, eine zwar brüderliche, dennoch nicht gänzlich von tiefer Zuneigung freie Verbindung. Daher wächst sein Misstrauen, sein Unverständnis, in dem Maße wie die Verbindung zwischen Giselle und Albrecht zu einer Liebesbeziehung wird.

Damit erschließt sich eine Szene zu Beginn, in der Myrtha für alle anderen unsichtbar in strenger Gestik und Haltung durch die Szene geht. Mit Tänzerinnen wie Irene López Ros in dieser Doppelrolle und Magdalena Pawelec in der Titelpartie könnten die Charakter der beiden Frauen nicht besser sichtbar gemacht werden.

Da ist die Bodenständigkeit der Giselle im facettenreichen Tanz, zunächst auf halber Spitze, später dann im Reich der Wilis, auf schutzlos blanken Sohlen. Da ist der Spitzentanz der Bathilde, nicht nur um ihre „höhere“ Stellung in der Gesellschaft anzudeuten, sondern auch als Zeichen ihrer Energie, die aus tiefer Verletzung kommt.

Und auch die beiden Männer haben jeweils ganz eigene Ausdrucksweisen. Von jünglingshafter Leichtigkeit ist Daisuke Sogawa als Albrecht, allerdings reagiert er ganz und gar „männlich“, wenn seine Verlobte Berthe die Idylle stört: er blendet aus, macht sich so gut wie unsichtbar und überlässt es letztlich Giselle zu sterben. David Roßteutscher als Hilarion ist es, der den Betrug aufdeckt und den kraftvollen Gegenpart tanzt, der - und das ist tänzerisch überzeugend - seine innere Zerrissenheit regelrecht zu überspringen scheint und so in die Nähe des Clowns mit der berühmten Träne im Auge gerät.

Für die Stimmungen der ländlichen Szenen findet Jutta Ebnother so temperamentvolle wie heitere Bewegungen, die ihre Höhepunkte in einem Art Kräftemessen finden, wenn mit András Dobi und András Virág die Begleiter der Bathilde dazu kommen. Für die Freunde aus dem Dorf, Fem Rosa Has, Amelie Lambrichts, Fumiko Okusawa, Johanna Schnetz, Auke Swen und Krill Kalashnikow beste Gelegenheit, je in kurzen Soli eine Reihe höchst unterschiedlicher Glanzpunkte zu setzen, wobei Kalashnikow seinem Namen alle Ehre macht. Die gleiche Gruppe entsteigt dann im nächtlichen Wald vor dem von Elisabeth Stolze Bley stimmungsvoll gestalteten Rundhorizont in den Kostümen von Adriana Mortelliti ihren Gräbern. Es herrscht Gleichberechtigung, auch Männer sterben an gebrochenem Herzen. Das ist möglich, denn es gibt nicht wie gewohnt die lieblichen Wesen im Spitzenschuh. „Untote“ Tote sind es hier: Monster, Vampire, sie zucken und verbiegen sich. Der Schmerz, den sie im unglücklichen Leben erfahren haben, scheint mit dem Tod längst nicht vorbei zu sein. Dann verharren wie in Kälte erstarrt; András Dobi fällt auf in seiner bedingungslosen Exaktheit.

Höhepunkte in diesem zweiten Teil sind der existenzielle Todeskampf des Hilarion von David Roßteutscher und das berührende Duett von Magdalena Pawelec und Daisuke Sogawa. Für Giselle ist es der endgültige Abschied und kraft ihrer Bereitschaft zur Vergebung für Albrecht eine weitere Chance auf Bewährung. Die Natur spielt beiden zu, und mit dem Anbrechen des neuen Tages ist Myrthas Macht gebrochen. Das Publikum feiert diesen Abend, seine Tänzerinnen und Tänzer, seine Choreografin. Für Jutta Ebnother ist die zehnte Saison angebrochen. Mit dieser „Giselle“ hat sie einen Maßstab für weitere Arbeiten gesetzt.
 

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