„Die Inseln der Vergessenen“ von Mia Facchinelli

„Die Inseln der Vergessenen“ von Mia Facchinelli

Jakubs wundersame Reise zu sich selbst

Berührende Uraufführung beim Ballett des Sorbischen Nationalensembles

Nach dem Roman „Die Insel der Vergessenen“ von Jakub Lorenc-Zalěski, der 1931 in obersorbischer Sprache erschien, hat Mia Facchinelli in ihren Handlungsballett Motive sorbischer Folklore mit Elementen zeitgenössischer Tanzsprache verknüpft.

Bautzen, 27/10/2014

Jakubs Reise beginnt in der Silvesternacht des Jahres 1917 und endet am 6. Oktober 1924. Der junge Mann ist seiner gewohnten Umwelt abhanden gekommen, ersteigt eine steile Treppe, von der kein Weg führt zurückführt. Eisige Kälte umgibt ihn, und plötzlich treibt er auf einer Eisscholle im stürmischen Meer.

Mit dieser Schilderung des Verlassens seiner realen Welt beginnt am 1. Januar 1918 das erste Kapitel des Romans einer suchenden Seele mit dem Titel „Die Insel der Vergessenen“ von Jakub Lorenc-Zalěski, der 1931 in obersorbischer Sprache erschien und in einer deutschen Übersetzung von Christian Prunitsch aus dem Jahre 2000 vorliegt.

In 40 kurzen, tagebuchartigen Kapiteln nimmt uns der Autor mit auf eine Reise, die ihn zu den Inseln des Vergessenes führt: in ein Land ohne Schatten, zu Orten der Versuchung, wo die Quelle des Vergessens entspringt, in ein Tal des Verlangens oder auf Wege, auf denen man sich in der Finsternis verlieren kann, um sich am Ende wiederzufinden, in der vertrauten Umgebung der Lausitz, am Ostermorgen des Jahres 1924, in Bautzen, in der Nikolaikirche.

Der Jakub des Romans trägt autobiografische Züge des Autors und seines Weges, der ihn aus beruflichen Gründen für 15 Jahre nach Dinslaken im Auftrag des Thyssener Konzerns führte. Im Zuge der sorbischen nationalen Bewegung zieht es den 1874 in Radibor geborenen Lorenc-Zalěski zurück an die Orte seiner sorbischen Identität. Hier widmet er sich schriftstellerischen Aufgaben, wird 1924 Vorsitzender des sorbischen Schriftstellerverbandes und der Wendischen Volkspartei, engagiert sich für sorbische Gleichberechtigung. Von den Nazis wird ihm 1933 jede künstlerische und politische Tätigkeit verboten, er wird kurzzeitig inhaftiert, 1938 zieht er krankheitsbedingt zu seiner Tochter nach Berlin, wo er ein Jahr später, am 18. Februar, stirbt. Der bekannte sorbische Lyriker Kito Lorenc ist sein Enkel.

Von lyrischen Motiven ist auch der Roman „Die Insel der Vergessenen“ geprägt. Mitunter ist die Sprache sehr melodisch, voller Metaphern und bei den Personen, denen der Reisende begegnet, handelt es sich um solche, die entscheidende Rollen in der Geschichte des sorbischen Volkes gespielt haben, um Gestalten der Sagenwelt und der Mythen, aber auch der Fantasie des Autors.

Eine wesentliche Rolle spielt die Person der Smjertnica, ursprünglich Todesgöttin - hier streng wie eine Priesterin, dabei jedoch nicht gänzlich frei von verführerischer Ausstrahlung - wird sie Jakub immer wieder dazu bewegen, seinen Weg weiter zu gehen, nicht zu verweilen, sich nicht aufzugeben in den Versuchungen des Vergessens. Denn das Vergessen und Verlieren der Identität bedeutet Untergang, Namenlosigkeit, Beliebigkeit. So wird aus der Todesgöttin eine Anwältin des Lebens.

Eine andere Person ist Jakubs Geliebte Hańža. Auch sie muss er verlassen, sie kann seinem Weg nicht folgen. In der Tanzfassung für das Ballett des Sorbischen Nationalensembles wird die Smertnica die Liebenden am Ende vereinen. Der Schluss des Romans hingegen ist von opernhafter Opulenz, wenn Bautzen zur „Stadt der Erkenntnis und Entscheidung“ wird, im Glanz einer Hauptstadt der Sorben, ihrer Traditionen und vor allem der Sprache und der Religiosität. Überhaupt finden sich in der literarischen Vorlage viele biblische Bezüge, bis hin zur Sprache, die nicht selten an Psalmen oder apokalyptische Visionen erinnert.

Mit voller Kraft und bewundernswertem Engagement hat jetzt das Ballett des Sorbischen Nationalensembles seine choreografische Variante in der Ausstattung von Wolfgang John vorgestellt. Das Libretto von Volkmar Draeger führt von jenem Silvesterabend des Jahres 1917 über geschickt ausgewählte Stationen des Vergessens im Finale des ersten Teiles zu einer eindrücklichen Begegnung Jakubs mit sich selbst - in der Gestalt eines gerochenen, alten Mannes, die ihn noch einmal darin bestärkt, allen Versuchungen des Vergessens zu widerstehen. So entkommt er dem Tal des Verlangens, flieht aus der Stadt der Erkenntnis und der Entscheidung, weil niemand sich dafür entscheiden kann, für das Sorbentum einzutreten. Am Ende, auf heimatlicher Erde, beschließt in folkloristischer Freude der pure Tanz den Weg Jakubs und seiner Freunde, die alle ihre zwischenzeitlich auf den Stationen des Vergessens abgelegten Kleider als Symbole neu gewonnener Identität wieder anlegen.

Die Tänzerin Mia Facchinelli, als Choreografin an der Palucca Hochschule in Dresden ausgebildet, verbindet in ihrem Handlungsballett Motive sorbischer Folklore mit Elementen zeitgenössischer Tanzsprache, lässt aber auch, insbesondere bei den Duetten der Solisten, neoklassische Momente mit einfließen. Dabei wird deutlich, dass sie sich von der literarischen Vorlage und deren Fantasien, die ja schon beim Lesen bewegte Bilder assoziieren, anregen ließ. Und dennoch zu einer Fassung gelangt, die sich erschließen lässt, auch wenn man den Roman nicht kennt. Die einzelnen, ineinander übergehenden Szenen sind von unterschiedlicher Intensität. Am Ende aber bleiben stark berührende Eindrücke einer Reise zu den Inseln der Vergessenen, die man so bald nicht vergessen wird.

Bei den Solisten gehen von den Tänzerinnen starke Wirkungen aus. So ist Ivana Miklosova als Smjertnica von unbeirrbarer Strenge einer zeitlosen Gestalt. Im Gegensatz dazu die heitere Leichtigkeit der Hańža im Tanz von Alexandra Silvey. Martin Pizga als Jakub überzeugt mit tänzerischem Können, zeigt sensible Partnerschaft in den Duetten, an Präsenz in der Darstellung könnte er noch gewinnen.

Wesentlich für das Gelingen dieser Aufführung ist die Musik von Liana Bertók. Aus unterschiedlichen Werken hat die in Rumänien geborene Komponistin ihre Ballettmusik zusammengefügt, die sich allem Illustrierendem widersetzt, eigenständig bleibt und reichhaltig ist bei der Wahl der Formen und Mittel. Besonders eindrücklich sind zu Beginn und gegen Ende Sätze aus einem Streichquartett. Sorbische Volksinstrumente kommen bei entsprechenden Passagen zum Einsatz, deren Klänge aber erfahren Brechungen etwa durch verwirrende Töne, die entstehen, wenn Bronze- oder Messingscheiben mit einem Bogen gestrichen werden. Sehr eindrücklich ein von der Orgel begleiteter Sprechgesang der Kompanie, bei der das Vaterunser in sorbischer und deutscher Sprache in visionäre Klanglandschaften führt.
 

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