„Decreation“ von William Forsythe. Tanz: David Kern, Richard Siegal, Dana Caspersen und Cyril Baldy

„Decreation“ von William Forsythe. Tanz: David Kern, Richard Siegal, Dana Caspersen und Cyril Baldy

Hunger nach Text, Sex und Sinn

William Forsythe: Wiederaufnahmepremiere im Bockenheimer Depot

„Decreation“, so der Titel des 2003 in Frankfurt entstandenen Stückes, wirkt bei der Wiederaufnahmepremiere taufrisch, quasi ein postmoderner Klassiker mit Hörspielcharakter, der die Faszination Forsythe voll entfaltet.

Frankfurt, 09/11/2014

„I’m not sad, I’m kind of hot!“, sagt irgendjemand. Schwer auszumachen wer da gerade spricht, im Getümmel auf der Bühne im Bockenheimer Depot. Der Stimme nach eine Frau, vielleicht aber auch ein Mann. Einer, der mit verstellter Stimme monologisiert, sich lustig macht und nur eine Frau persifliert? Oder kommt der Text aus der Dose? Es dauert, um im Universum von William Forsythe anzukommen. Bei den sieben Tänzerinnen, einem guten Dutzend Tänzern, einem Live-Musiker und einer Kamerafrau, die sich diskret zwischen die Akteure und Richtmikrophon-Ständer schiebt.

„Decreation“, so der Titel des 2003 in Frankfurt entstandenen Stückes, wirkt bei der Wiederaufnahmepremiere taufrisch, quasi ein postmoderner Klassiker mit Hörspielcharakter, der die Faszination Forsythe voll entfaltet. Das Publikum blickt von der leicht ansteigenden Tribüne in die Tiefe des Raumes. Säulen begrenzen die zentrale Spielfläche. Ein paar Stühle in loser Anordnung, ein großer runder Tisch hinten rechts und ein Monitor, der das Kamerabild – häufig Close-ups – reproduziert, sind Ausstattungselemente. Links und rechts neben der hellen Aktionsfläche sind dunklere, offen einsehbare Zonen, Rückzugsgebiet der Akteure, die mit Blick auf die Spielfläche, erneuten Einsätzen entgegensehen.

Während David Morrow am E-Klavier in Robert Schumanns „Album für die Jugend" (op.68) blättert, das romantische Melos auseinandernimmt und sehr subtil zu eigenen Variationen umbaut, zupft und zieht einer der Tanzenden an den eigenen Klamotten. Diese kindliche Verlegenheitsgeste entwickelt sich zum sanften Bewegungsimpuls, mal am T-Shirt, mal an der Trainingshose, folgt der Tänzer dem textilen Zug und beginnt um die eigene Achse zu rotieren. Andere durchwandern den Raum im Rückwärtsgang und finden zueinander. Handlungsradien schrumpfen und weiten sich. Ein Geflecht aus verstreuten Aktionszentren, die sich verdichten, gar verklumpen oder verlaufen, verflüchtigen, zum Stillstand kommen.

Zwei Männer haben sich ineinander verhakelt. Obwohl sie alles dran setzen, sich zu trennen, kommen sie nicht voneinander los. „I hate that! Stop that drama!“ ruft ein Dritter und zeigt auf die beiden. Zunächst gibt er sich cool, gießt aber immer mehr verbales Öl ins Feuer des Konflikts, bis er selbst von der Heftigkeit infiziert, anfängt zu brüllen und behauptet, er habe das Feuer unter Kontrolle. Auf ihn ist die Kamera gerichtet, seine Ausfälle gerinnen zum Medienbild, wohingegen sich der Zoff der beiden anderen längst aufgelöst hat. Es sei doch nur Spiel gewesen, behauptet einer der beiden.

Kleiderordnung, Prunk-Kostüm, prestigeträchtige Attribute oder knallige Farben, Erfolgsinsignien wie in frühen Stücken, gibt es nicht mehr. Forsythe, der sich von der Klassik in die Postmoderne gearbeitet hat, filtert aus seinen Choreografien alles heraus, das auf Hierarchien schließen lässt. Räumlich gesprochen hat er die Showtreppe abgeschafft und postmoderne Versuchsanordnungen auf einer egalitären Spielwiese geschaffen. Wie schon im Wuppertaler Tanztheater können sich die Tänzer ausagieren und aus ihrer selbst verordneten Sprachlosigkeit lösen. Insbesondere langjährige Forsythe Protagonisten, wie Dana Caspersen und Richard Siegal werden zu Sprachrohren, die nicht mit Philosophischem à la Friedrich Nietzsche und Absurdem à la Samuel Beckett geizen.

Was macht die Faszination Forsythe aus? Der Choreograf, der steilen Hierarchien den Garaus macht, stellt Logik, Kausalität und Konformismus zur Disposition. Das wiederum stellt vermehrte Anforderungen an die Wahrnehmungsfähigkeit der Tänzer wie des Publikums. Von hierarchischen Strukturen befreit, aber nicht froh, bleibt doch der Hunger nach selbstbestimmtem Text, Sex und Sinn.
 

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