„Deep Dish“ von Chris Haring und seiner Gruppe Liquid Loft im tanzhaus nrw

„Deep Dish“ von Chris Haring und seiner Gruppe Liquid Loft im tanzhaus nrw

Lustvoll im Tomatenfleisch

Liquid Loft gastieren mit einem opulenten Gemüse- und Obst-Buffet im tanzhaus nrw

Für „Deep Dish“ hat Chris Haring mit dem französischen Künstler Michel Blazy, einem Spezialisten für organische Skulpturen, zusammengearbeitet. Der Aufbau einer solchen, frisch vom Markt, bildet den Auftakt der 70-minütigen Performance.

Düsseldorf, 15/01/2015

„Die Österreicher sind sehr streng mit Lebensmittelkontrollen“, heißt es in einer der wenigen Text-Passagen dieser Aufführung. Chris Harings Tänzer veralbern die berüchtigten EU-Verordnungen für die Größe und die Krümmung von Gemüsegurken. Am Wiener Karlsplatz aber gebe es einen Schwarzmarkt für mit dem Gesetz nicht kompatible kleinere Gurken: „Aber nur am Dienstag.“

Für „Deep Dish“ haben Chris Haring und seine Gruppe Liquid Loft mit dem französischen Künstler Michel Blazy, einem Spezialisten für organische Skulpturen, zusammengearbeitet. Der Aufbau einer solchen Skulptur, frisch vom Obst- und Gemüsemarkt, bildet den Auftakt der 70-minütigen Performance: Vier Tänzer decken einen Tisch. Kunstvoll werden Trauben und Beeren, Kohl und Salat zusammengebaut zu einem opulenten Buffet, über das sich die vier bald mit zuckenden, orgiastischen Bewegungen hermachen werden. Zielsicher tropft eine Flüssigkeit von der Decke in ein schmales Wasserglas. Plop, macht der Soundtrack.

Drei Damen und ein Herr bilden das Tanzkollektiv. Luke Baio ist diesmal der Star der Truppe – nicht, weil er sich besser bewegen könnte als die anderen, sondern weil er gleichzeitig der Kameramann ist. Mit der Handkamera hält er immer hinein in den Salat, der bei maximalem Zoom kleine Füße und andere Körperteile zu haben scheint. Andere Obst- und Gemüsearten offenbaren drastische erotische Formen, die wir in Omas Garten bislang nie vermuteten. Eine einzelne Ananas wird zu einem undurchdringlichen Urwald, aus Chinakohl entstehen kleine Gruppen von Eisbergen. Baio gleitet mit der Kamera an der Skulptur entlang, kriecht mit dem Objektiv geradezu in sie hinein oder steigt auf den Tisch und filmt das Ganze aus der Vogelperspektive. Auf einer riesigen Leinwand mit hochauflöslichen, so gestochen scharfen wie zeitlupenartig fließenden Bildern entfaltet sich ein mystisches Universum. Der Sounddesigner Andreas Berger hat eine sogartige psychedelische Musik dazu komponiert. Aus der wunderschönen Obst- und Gemüsetafel erwachsen unheimliche Bilder und ein bedrohliches Geschehen.

Denn nach und nach wird die Skulptur zerstört. Die Musik mischt sich mit krachenden Beißgeräuschen, das Knacken des Salats schwillt an. Und dann gleitet das Messer in die Tomate – zunächst weich wie Butter, doch dann wühlt es im Tomatenfleisch wie ein psychopathischer Massenmörder im Mordopfer. In Großaufnahme suppt das Blut der Tomate über die Hände. Das wirkt eklig, brutal – und doch lustvoll. Denn immer bleiben die Bilder von überwältigender Schönheit - es ist die Schönheit der Dekadenz, vielleicht auch die Schönheit des Verfalls, denn Blazys lebende Skulptur zitiert klassische Vanitas-Motive. Wiewohl die Tänzerinnen scheinbar dem Wein nur maßvoll zusprechen, macht das barocke Gelage besoffen: Gespräche finden kaum statt, nur soziales Lachen, später auch albernes Kichern. Die Tänzerinnen beginnen auf der Leinwand zu schweben oder unter den Tisch zu kriechen, wo sie die Kamerabilder als leichenblasse Meeresungeheuer umeinander kreisen lassen. Das Pendant zu den menschlichen Unterwasser-Figuren entdecken wir mittlerweile auf dem Tisch: Auch das Wasser in den Gläsern hat eine trübe Färbung angenommen. Darin wird ebenfalls getanzt: Von Wasserflöhen.

Immer exaltierter wird im Essen gemanscht, immer wilder, immer… kann man noch sagen: lustvoller? Eher wirkt es animalisch. Die Kamera fängt die Beine der Tänzerinnen ein – sie wirken wie Hälse von Tieren; später werden Hände und Arme auf der Leinwand zu kopulierenden Körpern. In einer Wasserschüssel werden Naturkatastrophen entfacht.

Traumbilder und Alptraumbilder sehen wir: schön, gruselig, mystisch, psychedelisch. Und mit jeder Menge Filmzitaten. Natürlich denken wir an Marco Ferreris „Das große Fressen“. Studentinnen der Fachhochschule Merseburg haben vor zweieinhalb Jahren mit einer an diesen Film angelehnten Performance eine Anklage gegen den übermäßigen Lebensmittelkonsum und die Wegwerfgesellschaft formuliert und frappierend ähnliche Bilder gefunden. Ein oder zwei andere Bilder wecken Erinnerungen an Matthew Barneys „Cremaster“ Zyklus. Wir hören Händels „Lascia Ch’io pianga“ – auch so eine Vanitas-Ballade, die den Soundtrack zum Prolog von Lars von Triers „Antichrist“ bildete. Und dann erscheint auf dem Videoscreen in riesiger Vergrößerung eine Orange im Wasserglas. Langsam und bedrohlich nähert sie sich, füllt fast den gesamten Bildschirm aus. Auch den Sound dazu kennen wir. Es ist der Planet aus Lars von Triers „Melancholia“, der potentiell die Erde vernichten wird.

Michel Blazy nehme ihm die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, hat Chris Haring einmal in einem Gespräch mit der Wiener „Presse“ gesagt. In der Tat: Hier wird die Vergänglichkeit gefeiert, nicht gefürchtet. Auch im alten Rom war es wahrscheinlich am schönsten kurz vor dem Untergang. Und wenn der Untergang mit solchen Bildern einhergeht, dann begeben wir uns gelassen an Bord der Titanic: „Guten Abend, wir sinken. Darf ich mich setzen?“

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