„Hieronymus B.“ von Nanine Linning am Theater Heidelberg

„Hieronymus B.“ von Nanine Linning am Theater Heidelberg

Neue Zeitalter

Pick bloggt: Über Tanz an den Theatern Münster, Heidelberg und Osnabrück

Bei "Lulu" hat Hans-Henning Paar eine glückliche Hand. Nanine Linning verwebt einen grandiosen Film mit einer Entdeckungsreise der Bühne und der Welt des Hieronymus Bosch. Und Mauro de Candia packt mit seinem Zugang zu Brahms.

Münster/ Heidelberg/ Osnabrück, 03/03/2015

Darf ich mir ein Stück aussuchen, zu dem ich eine besondere Affinität habe, um es für's Tanztheater umzumünzen? Dann muss ich mir zunächst über die Musik klarwerden – die ich ja dazu benutzen will, schließlich gibt es keine Originalpartitur. Da hat der Choreograf des Theaters Münster, Hans-Henning Paar, bei „Lulu“ frei nach Frank Wedekind eine glückliche Hand gehabt. Und ich nehme an, der musikalische Leiter Thorsten Schmid-Kapfenberg hat mit Dirigentenweisheit und Beratung dazu beigetragen. Denn die Musiken von Kurt Weill, Viktor Ullmann, Paul Dessau, Pierre Oser und Friedrich Cerha sind nicht nur adäquat zu den verschiedenen Szenen, sondern kommen rüber wie aus einem Guss. Das bringt dem Städtischen Orchester, das auf der Bühne hinter dem Geschehen platziert ist, den größten Beifall des Abends ein.

Der nächste Schritt eines Regisseurs oder Choreografen ist wohl, wer mit welcher Rolle besetzt werden soll. Hier wird es schwierig im Ensemble Münster. Denn für die Rolle der Lulu braucht man eine charismatische Darstellerin oder Tänzerin, und die gibt es leider offenbar nicht. Ich nehme an, dass das auch Hans-Henning Paar klar wurde, und so besetzte er gleich vier Damen mit dieser sowohl kindlichen bis ausgebufften Frau, die auf den Strich geht und dabei das Opfer eines Massenmörders wird. Leider kommt keine von ihnen auch nur in die Nähe dessen, wodurch der Zuschauer verstehen könnte, was die Männer dazu bringt, sich wegen dieser Frau so ihrer selbst zu entäußern. Da reicht es leider nicht, sich unzähliger Slips zu entledigen oder sich diese ausziehen zu lassen – der Maler, den Lulu heiratet, hängt sich schließlich an solch einem intimen Gebrauchsgegenstand auf.

Die Gräfin Geschwitz verfällt ebenfalls der nun schon recht erwachsenen Lulu. Das kommt glaubhaft schön spröde und sie spielt alle anderen Damen an die Wand. Eine attraktive Lesbe – man kann kaum nachvollziehen, warum Lulu sich so schwer tut mit ihr. Bei den Männern sieht es besser aus. Vor allem bei jenem Maler, der in dieser Version als Fotograf künstlerischer Aktfotos vorgestellt wird. Ein dunkelhäutiger Mann, der selbstverliebt in einem Rollkragenpulli über seiner gut gebauten Muskulatur vor dem Spiegel mit sich selbst beschäftigt ist und vor Frauenbildern mit edler Linie tanzt. Bis er doch Feuer fängt und dann nicht zurechtkommt mit diesem Leben an der Seite Lulus, und nur einer unter vielen Liebhabern zu sein.

Übrigens war ich diesmal in einer Vorstellung, in der sehr viele Gymnasiasten saßen und habe noch nie – außer in China – erlebt, dass jede/r zweite vor, neben und hinter mir während der Vorstellung damit beschäftigt war, nein nicht zu telefonieren oder zu fotografieren, sondern SMS zu schreiben. Erst nach der Pause, als die Geschichte ihrem tragischen Ende zuging, wurden sie vom Geschehen mitgenommen – mitgerissen wäre übertrieben.

Auch in Heidelberg ist ein neues Zeitalter des Tanztheaters angebrochen mit einem sehr jungen Ensemble, das sich redlich bemüht, wenn es darum geht, die wüsten Schrecken des Hieronymus Bosch nachzuempfinden. Keine leichte Aufgabe, denn der Mann hatte schon zu seiner Zeit vor genau fünfhundert Jahren nicht nur eine erschreckende Ästhetik, die, wenn man sich in seine Bilder vertieft, nichts, aber auch gar nichts eingebüßt hat. Dem Publikum wird dazu reichlich Gelegenheit gegeben, in einer Art Volkshochschul-Seminar. Nanine Linnings Stück beginnt mit einem grandiosen Film in ganzer Größe der Bühne. Die Protagonisten sind in wahrlich herrlichen Naheinstellungen gefilmt, was bei mir gleich die Frage aufwarf: wie will die Choreografin das später – nach etwa einer halben Stunde – toppen?

Die Zuschauer werden nach dem Film auf verschlungenen Pfaden auf die Bühne geführt, wo die vorher schon vorgestellten Dekorationsteile aus der Phantasie des Hieronymus Bosch stehen, die von den Tänzern belebt werden und immer wieder die Menge verführen. Man scheut keine Gefahr auf der Bühne, was für normale Besucher sicher eine große Bereicherung dieses Theaterbesuchs ist. Wenn beispielsweise der mittlere Teil der Bühne hochfährt auf ca. 1,80 m und man das Orchester, das darunter platziert ist, entdeckt. Auf dem Podest wird dabei zu einer Barockarie ein Duett getanzt. Diesmal schon ohne die aufwändigen Kostüme in hautfarbenen Bodys. Für mich war diese halbe Stunde sicher nicht so aufregend wie für den Rest des Publikums. Da ich aber den Neubau dieses grandiosen Theaters nicht kannte, war es doch sehr interessant – besonders, weil in dieser Produktion auf der gesamten technischen Klaviatur gespielt wird. Ich kannte bis dato nur das recht kleine Zuschauerhaus, in dem Hans Kresnik die Welt auf den Kopf stellte, was nicht minder fesselnd war. Und auch bei ihm, erinnere ich mich, schwebte ein Gnom im Zuschauerraum, allerdings vom Balkon zum Gegenüber. An den Titel des Stücks erinnere ich mich nicht, aber sehr gut an Tomasz Kajdanski (heute Chef des Tanztheaters Dessau), der von der Staatsoper München eingeflogen wurde, da aber nicht am Seil.

Diesen Teil des Theaters habe ich diesmal leider nicht ansehen können, aber er ist mit Foyers umbaut und restauriert, und wird, denke ich, als Kleines Haus genutzt? Zeit für Erforschungen und Reminiszenzen hatte ich während der Pause, der dritten halben Stunde. Erst kurz bevor es weiterging, begab man sich wieder in den akustisch wie von der Beleuchtung her sehr edlen Zuschauerraum. Allerdings dauerte der nun folgende Teil über eine Stunde, so dass ich leider vor Ende ein Taxi besteigen musste, weil ich sonst nicht mehr aus Heidelberg weggekommen wäre. Was sicher immer reizvoll wäre, auch im Winter. Ich konnte also nicht sehen, wie die Choreografin mit großen Gruppenszenen, die teils erheblich wie Deutscher Ausdruckstanz daherkamen, und mit Soli und Duetten, die ihre junge Truppe auch technisch forderten, wieder zurückfand zu den Hieronymus Bosch-Phantasien und Alpträumen. Die Choreografie allein konnte das bis dahin nur andeutungsweise.

Auch in Osnabrück gab es eine Zäsur, nicht in der Konstellation – dort arbeitet unter der Mitwirkung von Patricia Stöckemann der Choreograf Mauro de Candia. Bevor ich den dreiteiligen Abend „Sacre“, der in Koproduktion mit dem Theater Bielefeld und dem TanzFonds Erbe entstand, besuchte, hatte ich schon ein Stück von ihm gesehen, das mir allerdings nicht in Erinnerung geblieben ist. Jetzt hat de Candia eine Brahms-Sinfonie „vertanzt“, was ich von vornherein nicht mag, weil ich die Umsetzung von symphonischen Musiken in Tanz grundsätzlich für fragwürdig halte. Das beginnt schon bei Massine. Umso größer war die Überraschung, dass es ihm gelungen ist, meine volle Aufmerksamkeit zu gewinnen. Von Beginn an habe ich hinterfragt, ob das, was ich da sehe, nämlich ein abstrahiertes Baumgebilde und Tänzer die mehr oder weniger eilig die Bühne bevölkern und sich ebenso bewegen, die Musik adäquat interpretiert. Nein, wird sie nicht – die Musik, die vom Städtischen Orchester im Graben dieses akustisch glücklichen Theaters unter Leitung des GMD (!) Andreas Hotz gespielt wird. Und nun kommt die große Überraschung: De Candia versucht es gar nicht – Schock!

Nun könnte man denken, er sei unmusikalisch und kümmere sich nicht darum. Trotzdem hat er mich, wie gesagt, bei der Stange gehalten und ich habe ihm abgenommen, dass er seinen ganz subjektiven Zugang zu dieser Musik interessant genug mit den Tänzern erarbeitet hat. Und Musik wie Choreografie scheinen ihnen zu gehören! Schon ziemlich bald setzte sich eine Tänzerin an den Rand des Grabens – ich mich fragte mich, warum? Erst wesentlich später, als einer der Männer seine Füße in den Graben hängen ließ, kam mir der Gedanke, dass de Candia womöglich eine Verbindung der Füße zum Klang herstellen wollte. Wie dem auch sei, die vier Sätze der Ersten Sinfonie wurden im Wechsel zeitgenössisch ergänzt durch sechs Sätze der finnischen Komponistin Kaija Saariaho mit dem Titel „Nymphéa Reflection“. Eine erstaunliche Reibung entsteht und verstärkt den Reiz der nur zu bekannten Brahms Sinfonie zum Finale, das dann doch nicht das Ende ist, sondern eben jene Musik der Nymphéa. Vielleicht bleibt sie an ihrem Ende alleine zurück, bis Dunkelheit sie erlöst. Überzeugender, lang anhaltender Applaus, der von der schwarzen Vorhangdecke abgewürgt wird.

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