Staatstheater Mainz bei den fresh-Tanztagen in Braunschweig
Staatstheater Mainz bei den fresh-Tanztagen in Braunschweig

Monströses

Pick bloggt: Über die fresh-Tanztage in Braunschweig

Jan Puschs mehrtägiges Tanzfestival am Staatstheater Braunschweig wartet auf mit einem vollbepackten Programm mit tanzmainz, dem Staatstheater Kassel, jungen Choreografen aus Deutschland und einem ganz besonderen Kinderstück.

Braunschweig, 28/06/2015

1. Tag: „Montréal“ von tanzmainz – Staatstheater Mainz

Im Großen Haus ist bei Einlass der Vorhang schon geöffnet: ein schlichtes Bühnenbild, eine blaue Operafolie unterbrochen durch 4,00m breite Samthänger wird sanft beleuchtet und ein Wesen weiblichen Geschlechts ertastet sich mit ihren endlosen Beinen durch einen der Zwischenräume die Bühne. Und das schon ist übertrieben. In Zeitlupe mit überdimensionalen Schritten betritt sie diesen noch leeren Raum, den niemand aufregender und überirdischer hätte betreten können, als Pina, mit – wie ich dachte – unnachahmlichen Ports de bras‘. Doch gelingt es der Choreografin Danièle Desnoyers durch ihr Medium Alexandra Corti 700 Zuschauer für Minuten in ihren Bann zu ziehen. Dann erleben wir eine Landung auf dem Boden der Tanztatsachen, es treten Männer aus dem Schatten auf und der Zauber ist verflogen.

Was nun passiert ist relativ vorhersehbar, aber von hervorragenden Tänzern auch auf dieser Ebene interessant genug, um erwarten zu können, dass die Choreografin, sich selbst kopierend, diesen Zauber auch aus anderen Tänzern herauslockt. Dann geht das Stück in andere Szenen über, nämlich Model-Girls, die alberne Revue- oder Nachtclubschritte mit Grazie und einem hysterischen, französisch sprechenden Entraineur aufzuführen versuchen. Das Stück nutzt sich nicht ab, als sich Paare bilden und in dieser Konstellation verschiedene Duette mit durchaus virtuosen Lifts, die fast aus dem klassischen Repertoire beeinflusst scheinen, durchführen. Aber es bleiben aufblitzende Details, die untergehen in einer absolut eigenen Sprache, selbst wenn man Langsamen Walzer aus der Tanzstunde verarbeitet. Man nimmt diesen wunderbaren sechs Paaren selbst das als Neuerfindung ab, wenn schließlich die Musik nach und nach in einen geraden Takt überwechselt. Es ist Kunst, was diese Tänzer hier zelebrieren, auch oder gerade weil nichts aufgesetzt scheint, sondern mit jeder Faser erlebt wird. Eine sehr starke Eröffnung ist diese „Blue Hour: Stunde der Wölfe“. Das zweite Stück „Denouement/Auflösung“ von José Navas hat mich, wie der Titel schon sagt, choreografisch nicht so beeindruckt, aber die Tänzer vom Staatstheater Mainz bringen es zum Glänzen. Ja, diese vitale, präzise Kompanie geleitet von Honne Dormann und Lisa Besser muss auch international keinen Vergleich fürchten.

2. Tag: „DOG | science! fiction! now!“ von Tanztheater – Staatstheater Kassel

Ich hoffte etwas ganz Neues würde für mich das Stück „Dog“ von Hofesh Shechter sein, der ja in der Szene als ein Up- and Coming-Star gehandelt wird. Nun, so toll fand ich es dann auch wieder nicht. Das ist immer die Crux, wenn man vorher den Mund wässerig gemacht kriegt und die Erwartungen so hochgeschraubt werden. Wie so oft hätte ich gar nichts mit dem Titel anfangen können, und auch der über Lautsprecher gesprochene Text über die Entwicklung der ach so klugen Delphine hat mir nicht weitergeholfen. Aber ich gebe trotz all der Negativa zu, die ich nun schon von mir gegeben habe, es ist alles andere als eine schlechte Choreografie und es passt gut zu dieser Kompanie von Johannes Wieland, dessen „Science! Ficton! Now!“ ich anlässlich der Gala in Gießen in einer Viewer's Digest-Version euphorisch aufgenommen und als besonders wertvoll tituliert hatte.

Die Gesamtversion hat bei mir dann doch einen etwas anderen Eindruck hinterlassen, wenn ich mich auch gefragt habe, ob es nicht doch das stärkere Stück von den beiden an diesem Abend gewesen ist und besser am Schluss getanzt hätte werden sollen? Der Aufwand, der da technisch getrieben wird, den fast gesamten Bühnenboden aufzureißen, hat sich mir nicht erschlossen, denn die Tänzer haben dort leider nicht mehr als den Torf aus Pina Bauschs „Sacre“ vorgefunden, so sehr sie ihn den Leuten in der ersten Reihe des Kleinen Hauses vor die Füße und besonders effektvoll durch die Luft schleuderten. Einmal mehr darf ich konstatieren, ein besonderes Bravo diesem Ensemble, das bis zur Selbstaufgabe an seine Grenzen geht, was durch die Nähe in diesem Theater besonders unter die Haut geht.

3. Tag: „fresh.YOUNGSTERS“

In der Rückschau war diese Vorstellung, ebenfalls im idealen Kleinen Haus des Braunschweiger Staatstheaters, sicher der bunteste Abend. Genannt „fresh.YOUNGSTERS“ meint dieser damit die Jungen Choreografen. Anfang und Schluss war den Veranstaltern gewidmet. Nämlich einmal Claudia Greco mit dem „Still“, das ich vorher schon mal ohne Mobiliar und Kostüme in einer Arbeitsprobe im Ballettsaal gesehen hatte, so dass ich meine Phantasie gehörig anstrengen musste. Das Stück will viel und erreicht auch Spannung, was auch schon viel bedeutet, aber es ist überfrachtet, besonders durch Kostüme und Perücken aus dem Fundus. Der Aufwand verschüttet manches und bewirkt eher Abschreckung in solchem Rahmen.

Der zweite Beitrag aus Braunschweig trägt auch dick auf, diesmal aber musikalisch mit einer Orgelmusik von Bach, choreografiert von Tillman Becker. So gut ich ein großes handwerkliches Talent sehe, so wenig erkenne ich, dass wir, die Zuschauenden zu Systemaniatics werden, noch der große Johann Sebastian, schon gar nicht ob dieser Komposition, vielleicht wäre hier György Ligeti oder noch besser John Cage gewesen. Aber ich fürchte, der Effekt, auf den der junge Mann zählt, wäre dann nicht derselbe. Trotzdem unbedingt weitermachen!

Dann gab es zwei Youngsters aus Osnabrück, zunächst Vasna Felicia Aguilar mit „A guy standing in the field – Lights on him“. Die Dreiecksgeschichte ist überschaubar und von den Tänzern einfühlsam interpretiert und wie üblich bleibt das Ende offen, and yet I liked it. Der zweite Beitrag aus Osnabrück beschäftigt sich mit den Stadtmusikanten, die wir aus der Märchenstunde kennen und nach dieser choreografischen Erzählung auch weiter lieben dürfen, wenn sie sich so witzig gibt, wie bei Beatrice Panero und hervorragend getanzt wird.

Anders das Stück „Under the gun“ von dem Niederländer Victor Rottier, der das Kasseler Tanztheater vertrat und sich mit einem eingespielten Textinterview-Ausschnitt auseinandersetzt. Sehr professionell kommt das daher und hätte eigentlich besser gepasst in den letzten Abend, den Jan Pusch zusammengestellt hat und der die Reihe der Freaks auf einprägsame Weise vervollständigt hätte. Aber es war auch gut als Höhepunkt des „fresh.YOUNGSTERS“-Abends, was nicht zuletzt an dem Tänzer Rémi Benard lag, der den Künstler in dem Oeuvre gibt, was er fast ohne zu tanzen herrlich süffisant rüberbrachte, was mich zu der Annahme verleitete, er sei der Choreograf. Falsch, der hatte sich den größten Tanzpart reserviert.

Am Anfang und am Ende waren Choreografien von Tänzern der Gastgeber in Braunschweig, Claudia Greco und Tillmann Becker, sie eine Theatralin, er der was Großes, nämlich J. S. Bach, ad absurdum führen kann. Das sind Talente, die nicht alltäglich sind! „Blickfang“, im wahrsten Sinne des Titels von Wessel Oostrum vom Heidelberger Theater sowie der Kollegin Mallika Baumann aus demselben Nest, die es fertig bringt die Zuschauer vom Lächeln in volles Lachen und an den Rand des Erlaubten zu bringen. Und dann war da noch „Under the gun“, vom Kasseler Staatstheater das einen Künstler, von dem ich annahm, dass Rémi Bernard als solcher zum Mittelpunkt würde, der seine Werke in fast abfälliger Weise präsentiert und daher kaum zu Tanzen kommt. Aber der Choreograf war eines der skulpturalen Geschöpfe, die sich lieber tänzerisch, auch boxend und ringend, komisch tiefsinnig bewegten. Diese drei Theater-Nester scheinen guter Humus für den Nachwuchs zu sein und die Auswahl der Stücke und deren Reihenfolge darf mit Sicherheit als beste Mischung gelten.

4. Tag: – „We are the Monsters | 4+“ – Tanzstück und Workshop von Colette Sadler

Als Nachmittags-Kindervorstellung gab es noch eine Köstlichkeit, die weiß Gott nicht vorhersehbar war und zwischen den „fresh.YOUNGSTERS“ und dem Abschlussabend „fresh.RELATIONS“ als Bindeglied hätte angesehen werden können, denn so monströs hatte die Abendvorstellung diesmal ohne Stadtmusikanten das Publikum im Auge. Aber wer außer mir war schon auf der netten kleinen Probebühne des Kleinen Hauses? Denn, wer Kinder hat, auf die er abends aufzupassen hat, kann nach einer Gute Nacht-Geschichte nicht gleich wieder fort. Ich bin sicher, die 3- bis 8-Jährigen haben von diesem Kinderstück geträumt, das nicht mal einen erzählenden Hintergrund brauchte, um uns alle bei der Stange zu halten. Philine Rinnert hat einen aus verschiedenen Kartons gestapelten Hintergrund gebaut, so simpel wie phantasieanregend, der auch für überraschende Auftritte und Abgänge sorgen kann.

Und die Kostüme, die sie für die Choreografin Colette Sadler entworfen hat, sind so fantastisch wie einfach, weil sie Kleidungsstücke aus dem täglichen Leben umfunktioniert zu monströs zusammengesetzten Riesen ohne Köpfe, die in Trikots, bei denen der Schritt am Knie hängt, sich nie aufrichten, sondern irgendwelche beeindruckenden Veitstänze aufführen, oder sich auch mal prügeln, wer denn nun der Bessere sei, wie im richtigen (Kindergarten-)Leben eben. Ich jedenfalls und, was wichtiger ist, die Kinder waren hin und weg, wenn sie auch nie angespielt wurden, wie oft zum Vergnügen von Kindern dieses Mitspielen ist. Das ist eine andere Herangehensweise, wie Gisela Peters-Rohse sie beispielsweise mit großem Erfolg seit Jahren weitergibt. Leider schon vor dem Ende des, wie bei Kindervorstellungen üblich, kurzen Applauses verschwanden die Mitwirkenden und wurden nie mehr gesehen. Sie waren auch nicht zu identifizieren gewesen, schade! Dafür gab's noch einen Mitmach-Workshop für die Kleinen, den ich mir gespart habe, wie die übliche Einführung zur Abendvorstellung. Bei mir muss es auch so gehen, mit den Monstern hatte ich jedenfalls kein Problem.

fresh.RELATIONS

Ob die Abendvorstellung mit von Jan Pusch zusammengesetzten Beiträgen der Höhepunkt war, ist sicher Geschmackssache, jedenfalls der diskutabelste. Es begann mit einer Arbeit von Pusch selbst, die er in Kooperation mit der Wolfsburger Movimentos Akademie über die Nöte und himmelhoch jauchzenden Gefühle der Jugendlichen erdacht hat, mit dem Titel „heart/beats/time“. Mir wäre lieber gewesen, wir hätten das Stück vor den Jungen Choreografen gesehen, denn dann hätte die Jugend besser zusammengepasst, der man gern etwas verzeiht. Als Meisterklasse gehen diese Jugendlichen nicht durch. Ein ähnliches Thema hatte die folgende Choreografie von Antonin Comestas, ein Franzose, der in den Niederlanden ansässig ist und in Braunschweig ein gern gesehener Gast. „Then, Before, Now, Once More“ wurde hinreißend getanzt von Martina Rocosa und Quentin. R. G. Roger.

Aber nun wird‘s heikel: Die Finnin Annamari Keskinen präsentierte ebenfalls ein Duo für ein allerdings sehr ungleiches Paar, das Sado-Maso-Praktiken bühnenwirksam vorzuführen versteht, ohne dass deswegen Zuschauer Türen schlagender Weise den Zuschauerraum verlassen müssten. Die Choreografin lässt sich selbst an die Leine nehmen, aber ihrem asiatischen Partner Oh Chang Ik, der hart im Nehmen ist, erspart sie auch nichts bei der Auswahl an Praktiken vor dem Kühlschrank. Durchaus mal was anderes auf einer Tanzbühne.

So ist auch die folgende Nummer mit aufblasbaren Sexpuppen, die zwei amerikanisch sprechende Damen zum Leben erwecken und wenn‘s nötig wird, auch „reanimieren“. Das beginnt sehr lustig, wenn man solche Gummipuppen mal ganz anders rannimmt, als wofür sie gedacht sind, aber wenn es dann ganze Völkerscharen werden, geht langsam die Puste raus, nicht nur bei den Puppen, sondern auch bei der tanzenden Choreografin Elisabeth Lambeck und ihrem Stück „This is not your cup“. Es wird allerdings auch hervorragend mitgetragen von der attraktiven Maria Walser. Lange nicht so laut gelacht in einem Tanztheater-Abend, der dann allerdings nach und nach etwas einfriert, so dass ich mich dann nach einhelligem Applaus auch gern auf den Heimweg machte, um mir vielleicht wie die Kinder aus der Nachmittagsvorstellung von dieser Monster-Freak-Show noch was zu erträumen.

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