„S“

„S“

Meryl Tankards Erben

Australische Produktionen „S“ und „Blue Love“ begeistern beim internationalen Tanzfestival „Colours“ im Theaterhaus Stuttgart

Zwei Beiträge aus Australien punkten beim internationalen Tanzfestival „Colours“: Witzig und multimedial das Duo „Blue Love“ von Shaun Parker, artistisch-puristisch die Cirque-Nouveau-Kompanie Circa mit „S“.

Stuttgart, 06/07/2015

Zwei Beiträge aus Australien punkten beim internationalen Tanzfestival „Colours“: Witzig und multimedial das Duo „Blue Love“ von Shaun Parker aus Sidney, artistisch-puristisch die Cirque-Nouveau-Kompanie Circa mit „S“ aus Brisbane. Beiden gemeinsam ist der Fokus auf physische Expressivität und eine genreübergreifende, am Tanztheater orientierte, Dramaturgie. Beim Stuttgarter Publikum entfachen die Künstler von Down Under Begeisterung pur.

Schon die übereck gedrehte, weiße Schwebebühne des Ensembles Circa lässt aufmerken. Auf dieser Spielfläche konzentriert sich das Ensemble aufs Wesentliche. Ein Körper, darüber eine Glühlampe, im Dunkel ist nur der Atem vernehmbar. Am Boden kauernd beginnt er sich zu recken und zu strecken, zu biegen und zu beugen. Aus diesen beiden Impulsen – dem Atem und dem Greifen nach Raum – loten die sieben Artisten in schlichter, dunkler Trainingskleidung Möglichkeiten und Grenzen der Körperkunst aus.

Hand- und Kopfstand, Überschläge, Salti, zwei- und dreistöckige Menschen-Türme und -Pyramiden, die zum Kippen gebracht werden, Gruppen die Skulpturen bauen, durch die andere in Flugrollen hindurch hechten, … in wechselnden Tempi verwirbeln die drei biegsamen, dennoch muskulösen Gymnastinnen und vier Athleten alles zu einer atemraubenden Dynamik, die sich in immer neuen Tanz-Kombinationen auflöst. Artistik an Tüchern, in Schlaufen und mit Wasserschüsseln, die sie auf dem Kopf balancieren – der Einfallsreichtum scheint keine Grenzen zu kennen. Manchmal schießt etwas über das Ziel hinaus: Wenn beispielsweise einem Akteur Tonabnehmer mit Klebestreifen an der Brust befestigt und ihm ein verkabeltes Mikro in den Mund gesteckt wird, sind die Effekte vorhersehbar und die Vorbereitung zu technisch, zu umständlich und überdimensioniert.

Yaron Lifschitz, Regisseur und künstlerischer Leiter von Circa, hat den Zirkus vom Spektakel befreit und zu einer Performance verdichtet, die vor- und nachbereitende Tätigkeiten als gleichwertige Parallelaktionen ins Gesamtgeschehen einbinden. Einziger Farbklecks sind rote Frotteetücher, mit denen der schweißnasse, rutschige Boden trocken gewischt wird. Nicht an Schweiß, sondern an Begriffe wie „sinuous, seductive, sensual“ (geschwungen, verführerisch, sinnlich) soll der Titel, der Buchstabe „S“, erinnern. In einer Endlosschlaufe gipfelt eine der elegantesten Nummern: blau-leuchtende Reifen sausen um Hand- und Fußgelenk, neue Reifen fliegen herein, versammeln sich um den geschmeidigen Leib einer Grazie, rotieren in Höchstgeschwindigkeit und verselbstständigen sich zu magischen Flug-Objekten. Für solch zirzensischen Zauber bedankt sich das Publikum immer wieder mit Szenenapplaus.

Applaus bekommen Shaun Parker und Lucia Mastrantone bereits, wenn sie das einlaufende Publikum mit Drinks versorgen. „Any alcoholics?“, will dieser Tänzer, Choreograf und Master of Ceremony wissen. Ein Gratis-Bier am heißen Sommerabend, da sagt kein Schwabe nein. Während sich das Couple mit Witz und Wulle durch die Reihen müht, kann der Zuschauer die Inseln der Behaglichkeit einer Durchschnittsehe studieren: Eine realistische Sitzecke samt Hund neben abstrakten Objekten wie einer Tür mit der Aufschrift „To Bedroom“ und einem (absichtlich falsch) beschrifteten („Chaise Lounge“), rechteckigen Sitzmöbel, ein nur aus Umrisslinien gezeichneter „Romeo & Julia-Balcony“ sowie eine am Boden liegende menschliche Figur, wie man sie aus Krimis kennt.

Zuerst läuft alles bestens: Sie treffen sich, verlieben sich, heiraten. Das wird à la Slapstick im Zeitraffer durchgespielt. Was dann – ebenfalls als deutsche Erstaufführung – unter dem Titel „Blue Love“ über die Bretter geht, ist die Abrechnung einer Zweierbeziehung, gespickt mit Zitaten und Querverweisen. Alles was das kulturelle Gedächtnis zum Thema „Die Ehe ist ein Schlachtfeld“ aufbieten kann, wird hier als köstliche Kolportage eingesetzt: griechische Tragödie, französischer Minnesang, Shakespear‘sches Intriganten-Stadel, „Dogville“ und vieles mehr.

Mal in der Ästhetik von Breitwand-Schnulze, mal à la Dogma oder in einer Mischung aus Film noir und Riverdance. Was die beiden Akteure in flapsiger Selbstironie reflektieren, exerzieren, vor- und vertanzen sind Rituale der Bürgerlichkeit, bei denen nicht nur physisch die Fetzen fliegen, sondern auch mit Esprit – Pina Bausch und Meryl Tankard lassen grüßen. Ein intelligentes Komprimat, das in einem völlig durchgeknallten Disput aus gesprochenen Schlagertiteln gipfelt: „I beg your pardon, I never promised you a rosegarden“, sagt er und sie antwortet „Love is a battlefield“. Nichts ist schöner als die Freude des Dritten, in diesem Fall des Publikums, wenn sich zwei so gekonnt streiten.

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