Neuerscheinung: Literatur und Tanz

Die choreografische Adaption literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute

Die Dissertation von Iris Julia Bührle knüpft ein komplexes Bild tanzhistorischer Bezüge

Würzburg, 30/09/2015

Detailreich recherchiert und quellengestützt (vor allem durch Original-Briefe und Zeitungsartikel) knüpft die Autorin ein komplexes Bild tanzhistorischer Bezüge und sich aus der Bewertung von Akteuren und ihren Tanzwerken konstituierten konstituierenden Entwicklungen. In ihrer nun bei Königshaus & Neumann edierten Dissertation sucht und findet Iris Julia Bührle bemerkenswerte Antworten auf die Frage: Wie wird Tanz zur Sprache?

„Wie kann man als Literaturwissenschaftler eine Tanzaufführung untersuchen, die ausschließlich aus nichtverbalen Elementen besteht? Wie muss ein literarisches Werk beschaffen sein, welche Eigenschaften muss die Geschichte haben, um sich als Quelle für ein Ballett zu eignen (…) welche Veränderungen muss ein Choreograf an einem gegebenen literarischen Werk vornehmen, um es an sein Medium anzupassen?“, fragt sich die Literaturwissenschaftlerin Bührle und rückt unterschiedliche Lesarten ins Zentrum ihrer Stückanalysen.

Als spannend erweist sich insbesondere die uneinheitliche Perspektive des Librettos von H. Heine/T. Gautier für „Giselle“; hatte doch Gautier „ursprünglich vorgesehen, die Willis im zweiten Akt in ihren nationalen Trachten auftreten zu lassen. Die exotischen Kostüme sollten abgenutzt und verwaschen sein, um die geisterhafte Atmosphäre zu bewahren“. Hier – wie in der gesamten Publikation – zeigt sich Bührles fundamentales Bestreben, das Ringen der unterschiedlichsten Ballett-Librettisten um einen dramaturgisch überzeugenden Plot dem Leser begreiflich zu machen. Libretto-Beschreibungen und deren sowohl textstilistische wie tanztheatrale Analyse durch die Verfasserin veranschaulichen die Entwicklung des Handlungsballetts, dezidiert die „Wege zum Literaturballett“, wobei ihre Ausführungen zu Traditionslinien in Bezug auf das sowjetrussische Ballett auch in den Quellen unausgewogen und eklektisch erscheinen.

Bührle hat die Bühne, das Theater als Ziel der librettistischen wie der choreografisch-inszenatorischen Bemühungen in ihren Fallstudien aus zwei Jahrhunderten stets im Blick. Sie stellt dar, mit welchen Mitteln (Choreografie, Ausstattung, Musik) Bedeutung im Theater erzeugt wird. Daraus resultiert aus meiner Sicht die Relevanz dieser umfangreichen Arbeit. Sie enthält ein Kompendium genauer Hinweise der Schöpfer (Produktion) für die dramaturgische Handlungsmotivation innerhalb einer Variation oder eines Pas de deux. „In Crankos Handlungsballetten wird ein kontinuierlicher Handlungsfluss geschaffen, der die Differenzierung zwischen erzählendem und reinem Tanz überwindet.“). Dies wird im Abdruck von Tanzkritiken (Rezeption) gespiegelt.

Bührles Arbeit ist sowohl Kritik als auch substanzielle Antwort auf die Ignoranz der Tanzforschung in Bezug auf „Crankos Rolle als Reformer des abendfüllenden Handlungsballetts“. Die Autorin arbeitet an „Onegin“ heraus, warum dieses Ballett national wie international leidenschaftliche Zustimmung wie auch Ablehnung erfuhr.

Vier umfangreiche, spannend zu lesende Werkanalysen beschäftigen sich mit den Schnittstellen von Literatur und Tanz: Von Victor Hugos Roman „Notre-Dame de Paris“ (1831) zu Roland Petits „Notre-Dame de Paris“ (1965, als Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des Balletts an der Pariser Oper), von Alexandre Dumas fils „La Dame aux Camélias“ (1848) zu John Neumeiers „Die Kameliendame“ (1978), von Johann Wolfgang von Goethes „Clavigo“ (1774) zu Roland Petits „Clavigo“ (1999), von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ (1911) zu John Neumeiers „Der Tod in Venedig“.

Erstaunenswert informative Querverweise finden sich auch in den Studien zum „geschickten Ballettdramaturgen“ Heinrich Heine und dessen Libretto „Der Doktor Faust“, in dem er „den Teufel in weiblicher Form auftreten lässt“. Bührle gelingt eine überzeugende Beschreibung und Bewertung dramaturgischer Entscheidungen für die choreografisch-szenische Umsetzung inhaltlicher Absichten.
Die Geschichte des Ballett-Librettos, beginnend im 16. Jahrhundert als Szenario der Vorstellungen bei Hofe, ist eine (fast) unbekannte Größe in der Literaturwissenschaft. Wie und warum wurden Ballette von Noverre, Cranko und Neumeier „Exporterfolge“ deutscher Tanzkunst?

Die Autorin umreißt im ersten Teil „die Entwicklung der Beziehungen zwischen literarischer Inspiration und davon abgeleitetem Tanzwerk seit der Geburt des Handlungsballetts“ und konzentriert sich dann im zweiten und dritten Teil auf die Entstehung des „Literaturballetts“ seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Stuttgart, Hamburg und der Pariser Oper. „Die Quellen entstammen ausschließlich der deutschen und französischen Literatur. Jedoch ist die Anzahl der Pioniere des Literaturballetts der sechziger und siebziger Jahre und der sich über einen längeren Zeitraum abendfüllend mit Literatur beschäftigenden Choreografen von Balletten auf klassischer Basis recht überschaubar – in Deutschland und Frankreich ist in diesem Gebiet die Vorrangstellung von John Cranko, John Neumeier und Roland Petit offensichtlich. Die Studie behandelt hauptsächlich die Werke dieser Künstler, da sie auch wesentliche Neuerungen in die choreografische Literaturumsetzung einführten.“

Auf mehr als 500 Seiten untersucht die vorliegende Arbeit vor allem tanzhistorische Errungenschaften beim dramaturgischen Ringen um ein überzeugendes literarisch inspiriertes Tanzkunstwerk, die Wechselbeziehungen der Künste, die nationale Eigenheiten, den europäischen Austausch von Tanzschöpfern und Tanzkunstwerken, die kulturhistorisch und subjektiv bedingten Unterschiede in der nationalen und internationalen Rezeption. Beispielhaft anschaulich, wie die Autorin immer wieder Traditionslinien offenlegt. Zum Beispiel: „Noverre war zunächst Tänzer, dann Ballettmeister an der Opéra Comique, was er in seinen früheren Schriften sorgsam verschwieg. Die Pariser Oper, wenig innovativ gesinnt, stand dem neuen Genre lange skeptisch gegenüber. Erst 1770 wurde dort das erste ‚ballet d´action´ aufgeführt, und es handelte sich ausgerechnet um eine Inszenierung von Noverres „Médée et Jason“ durch den Jason der Stuttgarter Uraufführung, Gaetano Vestris.“

Bührle untersucht den dramaturgischen Aufbau in Noverres „Médée et Jason“ nach Euripides, Corneille (1773, Stuttgart), dessen Libretto hier (wie auch das Libretto von Jean Cocteau „Phèdre“ und Werner Egk „Abraxas“ abgedruckt wird). Quellengestützt erfährt der polyglotte Leser die Tanzaffinität Denis Diderots, Casanovas detailreiche Erwähnung der Künste und Noverres Wirken am Hof des Herzogs Karl Eugen von Württemberg (dem Noverre seine „Lettres“ gewidmet hatte) in seinen Memoiren, Christoph Martin Wielands Lob Noverres aus Weimar. Die Autorin macht in diesem spannenden Kapitel „Das 18. Jahrhundert: Die Geburt des ballet d´action“ anschaulich, warum Noverres Stücke zu den ersten „Exportartikeln“ des deutschen Balletts avancierten. Gleichermaßen aussagekräftig beschreibt die Autorin die Traditionslinien nach Noverres Weggang von Stuttgart nach Paris, seine Vertreibung als Ballettmeister 1781 und das Wirken seiner Vorgänger und Nachfolger. Sie analysiert Libretto, Musik, Bühnenbild und Rezeption des ballet d´action; Pierre Gardels „Télémaque dans l´isle de Calypso“ (1790) nach einer Episode aus dem Roman von F. Fénelon. Télémaque zählt zu den „erfolgreichsten Balletten in der Geschichte der Pariser Oper. Es blieb 36 Jahre auf dem Spielplan. Erst das Aufkommen der Ära des sogenannten romantischen Balletts vertrieb das Stück definitiv aus dem Repertoire.“

Ästhetisch sehr erhellend und tanzhistorisch aussagekräftig interpretiert sind die Perspektivwechsel in der Rezeption der von Bühle untersuchten Ballette und des von ihr recherchierten Presseechos durch namhafte Kritiker in Deutschland, Frankreich und den USA, „wo man mit der Gattung des abendfüllenden Handlungsballetts weniger vertraut war deren Maßstab die handlungslose Neoklassik eines Balanchine und Jerome Robbins war.“

Diese umfangreiche Untersuchung ist profund und detailreich bis in die Querverweise, doch schreibt auch Iris Julia Bührle die Ignoranz gegenüber den tanzhistorischen Entwicklungen und Leistungen in der DDR fort, wenn sie sich im Untertitel auf Deutschland bezieht, doch inhaltlich die Entwicklung in Deutschland bis 1949 und dann in der Bundesrepublik Deutschland an prominenten Fallbeispielen untersucht.

Choreografen wie Lilo Gruber, Emmy Köhler-Richter, Birgit Scherzer, Arila Siegert sucht der Leser auch im Index vergeblich. Tom Schilling findet nur als Fußnote im Zusammenhang mit Egks „Abraxas“ Erwähnung; der Eintrag ist inkorrekt: Tom Schilling choreografierte „Abraxas“ als Eröffnungspremiere des neugegründeten Tanztheaters der Komischen Oper Berlin am 28.1.1966. Das Werk erlebte 39 Aufführungen bis 1968. Tom Schilling, Gründer, Chefchoreograf und Künstlerischer Leiter des Tanztheaters der Komischen Oper 1966-1993, steht für Uraufführungen und Erstaufführungen literarischer Tanzadaptionen. Schillings „Wahlverwandtschaften“ (UA 1982, Libretto Bernd Köllinger) nach Goethes Roman wurde zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises 1996 an Tom Schilling am 2.3.1996 im Aalto-Theater in Essen aufgeführt. Eine Fußnote, die im 25. Jahr der deutschen Einheit nachdenklich stimmt.


Literatur und Tanz
Die choreografische Adaption literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis Heute
Verlag Königshausen & Neumann GmbH Würzburg 2014
ISBN 978-3-8260-5542-3
49, 80 Euro

 

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