Ann-Elisabeth Wolff, Festivaldirektorin euro-scene Leipzig 
Romeo Castellucci, Regisseur und Leiter der Socìetas Raffaello Sanzio, Cesena
Ann-Elisabeth Wolff, Festivaldirektorin euro-scene Leipzig 
Romeo Castellucci, Regisseur und Leiter der Socìetas Raffaello Sanzio, Cesena

Newcomer im Defilee der Stars

Die euro-scene Leipzig feierte opulent „25 Jahre – ein Fest“

Auf zehn Spielorte verteilten sich an sechs Tagen die 15 Gastspiele zeitgenössischen europäischen Theaters aus elf Ländern.

Leipzig, 16/11/2015

Der Stolz über das Erreichte ist Ann-Elisabeth Wolff durchaus anzumerken. Ein Festival ein viertel Jahrhundert jeden Herbst am Laufen und mit spannenden Gastspielen überregional in der Debatte zu halten verdient eine Feier. Die Jubiläumsausgabe der euro-scene Leipzig stand daher nicht wie sonst unter einem klammernden Motto. „25 Jahre – ein Fest“ würdigte schlicht das chronologisch seltene Faktum, gedachte des früh verstorbenen Festivalgründers Matthias Renner und bot seiner Nachfolgerin die Gelegenheit, zur Jubeledition jene Gruppen und Künstler einzuladen, die dem einzigen Festival dieser Art in den neuen Bundesländern mit ihren Namen und Stücken zu Glanz verholfen haben. Auf zehn Spielorte verteilten sich an sechs Tagen die 15 Gastspiele zeitgenössischen europäischen Theaters aus elf Ländern.

Leipzigs Fangemeinde bescherte den 27 Vorstellungen eine Auslastung von rund 95 Prozent – Grund genug, der euro-scene weitere 25 Jahre zu prophezeien, wenn denn endlich die Finanzierung auf eine sichere Basis gestellt wird. Zwar legte die Stadt nochmals drauf und bestreitet per Rahmenvertrag mit 300.000 Euro die Hälfte des Etats, 180.000 Euro kommen vom Freistaat, den Rest bringen dankenswerterweise Kleinsponsoren auf. Die wenigen großen Firmen der Region unterstützen, klagt Wolff, eher Institutionen mit mehr Glamour wie das Gewandhaus. Dass es ihr dennoch gelungen ist, Anne Teresa De Keersmaeker aus Brüssel mit „Rosas danst Rosas“ zur Eröffnung einzuladen und Stars wie Alain Platel aus Gent mit „En avant, marche!“, Béla Pintér aus Budapest mit „Titkaink“, Josef Nadj aus Orléans mit „Paysage inconnu“ zu verpflichten, spricht für das internationale Renommee, das beide genießen – die euro-scene und ihre rührige Direktorin. Wie breit jeweils das ästhetische Angebot ist und in der Planung bis 2020 bleiben soll, mögen drei der Gastspiele verdeutlichen.

Auch er gehört mit sechs Teilnahmen zu den Erfolgsgaranten der euro-scene: Romeo Castellucci aus Cesena. Wiederum überraschte seine 1981 gegründete Socìetas Raffaello Sanzio mit einem ganz unerwarteten Kommentar zum Musiktheater. „Schwanengesang D 744“ reihte auf der Bühne des Schauspielhauses zehn Schubert-Lieder aus diversen Sammlungen, so „Ständchen“, „Klage“, „Nur wer die Sehnsucht kennt“, die titelgebende Komposition. Alle umkreisen sie Themen wie Abschied, Einsamkeit, Tod. Zunehmend versinkt die schwedische Sopranistin Kerstin Avemo in dieser trüben Stimmung, bricht gar in Tränen aus, ehe sie auf den schwarzen Hintergrundvorhang zuschreitet und ihn auf Knien ansingt, mehr verdämmernde Stimme als sichtbare Interpretin. Diese Rolle übernimmt im Zentrum als ihr Doppel die Französin Valérie Dréville, auch sie ganz an jene Trübnis verloren. Das ändert sich, als sich die Schauspielerin zum Saal umwendet und in ihrer Intimität ertappt fühlt. Wutentbrannt prasselt eine Kanonade wüster Beschimpfungen auf die vermeintlichen Voyeure hernieder – bis die Frau, beschämt von so viel überschäumenden Emotionen, weinend niedersinkt, unter den Bühnenbelag kriechen möchte. Die Bühne erzittert mehrfach unter Kurzschluss. Am Ende haben Schuberts Romantik und ihre zeitweilige Demontage Frieden geschlossen: Ohne Gesang und Text führt die Aktrice ihre Gestik im Zwielicht weiter. Verunsichert hat sie den Zuhörer indessen schon.

Verunsicherung erreichten auch Leszek Mądzik und die seit 1969 bestehende Scena Plastyczna KUL aus Lublin. Im Stück „Bruzda“ durchzieht die „Furche“ als schmaler Wassergraben den Raum der Peterskirche. Ein Zeremonienmeister karrt in Papiersäcken vier Gestalten in schwarzen Büßergewändern herein, dirigiert sie durch den Graben, wobei jeder, Zeichen des Übergangs in eine andere Welt, eine Papierwand durchstößt und der Länge lang hinschlägt. Gemeinsam enden die Darsteller als Schatten hinter einer papiernen Verkleidung im Altarraum. Als sich die Wand hebt, sieht man sie an einer Abendmahls-Tafel sitzen. Nach unsichtbarer Verwandlung tragen sie alle die Köpfe von bunten Fantasievögeln, disputieren paarweise und ziehen in ähnlich gemessener Prozession wie beim Anfang durch die Furche in ein Ungewisses ab. Arvo Pärts „Miserere“ verleiht der Zeremonie die Weihe eines religiösen Rituals, das jeder für sich deuten kann.

Ganz diesseitig lässt der junge Belgier Jan Martens in „Sweat, baby, sweat“ agieren. In Badebekleidung feiern ein Mann und eine Frau ihre Liebe, erleben in Verklammerung, Verknotung, Verhakelung fast stets am Platz Phasen der Hingabe, erzeugen ein rauschhaftes Ein-Stunden-Stück von extrem kraftzehrender Adagioakrobatik. Projizierte Textzeilen von den Backstreet Boys bis zu Amy Winehouse, von Sinatra bis Presley grundieren den Liebesakt optisch.

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