„Orestie“ von Olaf Schmidt. Tanz: Harumi Washiyama, Wallace Jones.

„Orestie“ von Olaf Schmidt. Tanz: Harumi Washiyama, Wallace Jones.

Im Strudel der Rache das Licht

Olaf Schmidt choreografiert die „Orestie“ für das Ballett am Lüneburger Theater

Feinste, tief durchdachte Tanzkunst, von jedem Einzelnen mit Hingabe und auf hohem Niveau dargestellt.

Lüneburg, 30/01/2016

Es war schon sehr gewagt, was Olaf Schmidt, Ballettdirektor in Lüneburg, sich da vorgenommen hatte: Die Umsetzung der 458 vor Christus geschriebenen dreiteiligen Tragödie „Orestie“ des griechischen Dichters Aischylos in Tanz, mit einem zehnköpfigen Ensemble, auf einer vergleichsweise kleinen Bühne. Es ist das zweite Mal, dass dieses Stück für Ballett adaptiert wird, das erste Mal wagte es Joachim Schlömer 1993 in Ulm. Im Original umfasst das Werk drei Abende, die hintereinander gespielt werden – Olaf Schmidt beschränkte sich auf die wesentlichen Handlungsstränge und komprimierte das ganze auf zweimal eine Stunde.

Die „Orestie“ markiert eine wichtige Grenze aus der Zeit des ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’ und den demokratischen Strukturen der Gesellschaft heute. Zu Aischylos Lebzeiten gab es noch keine Gerichtsbarkeit, Selbstjustiz war normal. Und so verstrickt sich auch das Haus Atreus in einen Strudel der Rache: Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie, damit die Götter endlich günstige Winde für seine Fahrt nach Troja schicken. Iphigenies Mutter Klytaimnestra ermordet deshalb Agamemnon nach seiner siegreichen Rückkehr aus dem trojanischen Krieg, und als Kollateralschaden fällt ihrer Rachsucht auch noch die Seherin Kassandra zum Opfer, die Agamemnon als seine Geliebte mitgebracht hatte. Noch in Agamemnons Abwesenheit hatte sich Klytaimnestra Aegisth zum Mann genommen und zum König gekrönt. Elektra, Tochter von Klytaimnestra und Agamemnon, hasst Aegisth und verzweifelt schier am Tod ihres Vaters, ihr Bruder Orest verlässt das Haus und geht in die Fremde. Chrysothemis, die dritte und jüngste Tochter, ist mit ihrer kindlichen Heiterkeit der Gegenpol zur hasszerfressenen Elektra. Als Orest schließlich zurückkehrt, überzeugen ihn Gott Apollon und dessen Freund Pylades, den Tod des Vaters zu rächen und Klytämnestra zu ermorden. Widerstrebend fügt sich Orest in dieses Schicksal: „Du hast getan, was man nicht tun durfte – erleide nun, was man nicht tun darf.“ Er fühlt sich jedoch schuldig und besudelt und wartet nun seinerseits darauf, von den Göttern für den Mord an der Mutter gemeuchelt zu worden. Jedoch – es kommt anders. Pallas Athene veranlasst ein Gerichtsverfahren, weil sie findet, dass Schuld und Unschuld hier zu dicht zusammenliegen, und Orest wird freigesprochen. Es ist der Beginn des demokratischen Rechtssystems und der vom Volk geschaffenen Regierungsinstrumente und damit eines neuen Zeitalters der Menschheit.

Olaf Schmidt verdichtet diese komplexen Handlungsstränge zu einer gut verständlichen Abfolge und findet deutliche Anspielungen auf die Gegenwart – zum Beispiel indem er Agamemnon zum coolen Banker mit Aktenköfferchen und Anzug macht. Dankenswerterweise verzichtet er nahezu komplett auf Kunstblut, obwohl das Stück nun wahrlich von Blut nur so trieft. Stattdessen verwendet er große schwarze Tücher und eine Art Handkantenschlag, um einen Mord zu verdeutlichen. Die Rachegötter der Erynnien verkörpern immer wieder die Emotionen, die zwischen den Menschen aufwallen – vor allem im Bösen. Fliegende Kostümwechsel hinter der Bühne (eine Meisterleistung von Garderobieren und Maske!) ermöglichen es, dass so ein vielschichtiges und personenstarkes Epos auch mit zehn Tänzer*innen zu bewerkstelligen ist.

Vollkommen überzeugend ist die Bewegungssprache, die Olaf Schmidt für die komplizierten Handlungsstränge findet: dynamisch, kraftvoll und doch auch ungemein sensibel und fragil, am deutlichsten zu erkennen in einem grandiosen Pas de Deux für Elektra und ihre ungleiche Schwester Chrysothemis zur Musik von Isoldes Liebestod von Richard Wagner. Wallace Jones ist ein ebenso herrschsüchtiger wie zerbrechlicher Agamemnon, Giselle Poncet eine furiose Klytaimnestra, Harumi Washiyama eine zerbrechliche und doch mutig in ihr Schicksal gehende Iphigenie, Phong Le Thanh verleiht seinem Orest eine starke Dynamik, Claudia Rietschel gibt eine in ihrer Verzweiflung tief berührende Elektra, Mara Sauskat brilliert in der Doppelrolle als Kasssandra und Chrysothemis – kurzum: Das gesamte Ensemble überzeugt auf ganzer Linie. Das ist feinste, tief durchdachte Tanzkunst, von jedem Einzelnen mit Hingabe und auf hohem Niveau dargestellt.

Claudia Möbius und Manuela Müller stehen für ebenso schlichte wie passende Kostüme und ein wandlungsfähiges Bühnenbild. Robin Davis leitete die Lüneburger Symphoniker souverän durch die schwierig zu spielenden Werke von Philip Glass, Henryk Górecki, Peteris Vasks, Béla Bartók und Richard Wagner – auch bei der Musikzusammenstellung hat Olaf Schmidt eine sichere Hand bewiesen.

Bleibt zu wünschen, dass dieses Stück noch oft und lange auf dem Spielplan steht und bundesweit Beachtung findet. Das Lüneburger Ballett ist jedenfalls auf dem besten Weg, eine Kompanie von überregionalem Ruf zu werden.

Ein Interview mit Olaf Schmidt anlässlich der Premiere.
 

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