„Violent Event˟“ von Billinger & Schulz

„Violent Event˟“ von Billinger & Schulz

Ein riesengroßes Schaufenster

Eindrücke von der 12. Auflage der Tanzplattform Deutschland in Frankfurt

Zwei tanznetz.de-KorrespondentInnen besuchen Vorstellungen der Tanzplattform 2016 und nehmen unterschiedliche Perspektiven ein. Hier der Bericht von Isabelle von Neumann-Cosel.

Frankfurt, 08/03/2016

Alle zwei Jahre versuchen sich die wechselnden Macher der Tanzplattform an der Quadratur des Kreises. Der selbst gewählte Anspruch des Zusammenschlusses führender Tanz-Produktionshäuser in Deutschland ist es, herausragende Produktionen aus den letzten zwei Jahren zu zeigen, die Festivalleiter, Tanzdramaturgen und Kuratoren aus dem In- und Ausland zu interessieren vermögen und gleichzeitig das Publikum wie die Fachkritiker ansprechen. Außerdem sollte natürlich mindestens eine originelle Entdeckung geboten und natürlich ein repräsentativer Querschnitt über alles gezeigt werden, was sich derzeit unter dem Stichwort „zeitgenössischer Bühnentanz“ einordnen lässt – und das wird kontinuierlich mehr.

Immer auf der Suche nach neuen Bewegungsideen, hat der Tanz längst jede Menge ursprünglich fremdes Terrain erobert und eingemeindet – niemand wundert sich mehr über die demonstrativen Tanzverweigerer in den aktuellen Tanzproduktionen. Eine möglichste breite Auffächerung des Tanz-Begriffs konnte man auch am diesjährigen Jury-Entscheid ablesen. Für Sandra Noeth, Eike Wittrock und Sven Till sowie die zu einer Stimme zusammengefasste Vertreter des veranstaltenden Mousonturms in Frankfurt war es wichtig, ihre Entscheidungsargumente transparent zu machen: Vor jeder Vorstellung informierte ein Jury-Mitglied über die Gründe für die Auswahl. Dennoch – Jury-Entscheide werden natürlich heiß diskutiert. Das Programm brachte allerdings weder ein unerwartetes Highlight noch eine krasses Tief mit sich.

Für die meisten Diskussionen und einigen Unmut im Publikum sorgte der Festivalbeitrag „Violent Eventˣ“ von Verena Billinger und Sebastian Schulz, in dem Gewalt als etwas völlig Normales demonstriert wurde. Die in diesem Stück verhandelte These, dass Gewalt ausüben und Gewalt erleiden ganz alltägliche, von gesellschaftlicher Konvention abgesicherte Handlungen sind, blieb aber mit der Negierung jeder emotionalen Ebene von Gewalt leider die dramaturgische Weiterentwicklung im Stück schuldig. Und ausgerechnet das Auftaktstück im voll besetzten Frankfurter Schauspielhaus, „Not Punk. Pololo“ von Gintersdorfer/Klaßen mit Tänzern von der Elfenbeinküste blieb de facto hinter den anspruchsvollen Vorerwartungen zurück – was nicht zuletzt auch auf ein offensichtliches kulturelles Missverständnis zurückzuführen war. Das üppige „Twerking“ (Hinternwackeln) wurde von den Ausübenden als furioser Partybeitrag beigesteuert, von den Choreografen als Subkultur angepriesen und vom Publikum als amüsanter Trash goutiert.

Als einen Trend der diesjährigen Stückauswahl hatte Mousonturm-Intendant Matthias Pees den Rückgriff auf Tanzgeschichte ausgemacht – zu einhundert Prozent galt das für die Rekonstruktion von Oskar Schlemmers Jahrhundertwerk „Das Triadische Ballett“ durch die Junior Company des Bayerischen Staatsballettes.

Auch Paula Rosolen stocherte für ihr Ballett „Aerobics“ in der Vergangenheit, nämlich in den Ursprüngen der Aerobic-Bewegung in den Siebzigern und verwob das typische Dauerhüpfen mit klassisch-romantischen Ballett-Strukturen. Dass zumindest ein Tänzer optisch so gar nicht in das angestrebte Ideal des fitnessgestählte Körpers passen wollte, sorgte für einen zusätzlichen Witz bei der Umsetzung der nicht allzu anspruchsvollen Idee.

Isabelle Schad schließlich wurde bei dem Bewegungsmaterial für ihre „Collective Jumps“, die eine sechzehnköpfige Tänzergruppe zu einer organischen Einheit verschmelzen ließ, beim Volkstanz fündig. Ein weiterer schon länger zu beobachtender Trend wurde auch auf der Tanzplattform sichtbar: Die genreübergreifende Zusammenarbeit von Performern mit ganz unterschiedlichem Hintergrund aus den Bereichen Tanz, Sprechtheater und Musik.

Groß angelegten Versuchsanordnungen wie der mehr als zweistündigen, zwischen Selbstversuch, Nachtclubevent und doppelbödigem Entertainment mäandernden Stück „Until Our Hearts Stop“ von Meg Stuart standen kleine Preziosen gegenüber wie Antje Pfundtners Erwachsenen- und Kinderstück „nimmer“. Die Hamburgerin findet darin einen ganz eigenen Mix aus Text und Tanz, Märchenbeschwörung und Theaterwunder – tatsächlich attraktiv für Groß und Klein.

Mit der Tanzplattform ist die erste Etappe des eigens ausgerufenen „Tanzjahr 2016“ (www.tanzjahr2016.de) geschafft – es folgen der Tanzkongress in Hannover (www.tanzkongress.de) und die internationale Tanzmesse in Nordrhein-Westfalen (www.tanzmesse.com). Mit insgesamt über 10 000 Besuchern in 49 Veranstaltungen, neun Spielorten in vier Städten und rund 500 Fachbesuchern aus über 50 Ländern hat die diesjährige Tanzplattform jede Menge Superlative produziert. An dieser Latte muss sich die Tanzplattform 2018 messen lassen: die ehemalige Zeche PACT Zollverein in Essen, neu aufgenommenes elftes Mitglied in der illustren Runde der Tanzplattform-Macher, wird sie ausrichten.
 

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