„Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Tanz: Marc Jubete und das Ensemble

„Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Tanz: Marc Jubete und das Ensemble

Wiederaufnahme mit zahlreichen Neubesetzungen

John Neumeiers legendäre „Matthäus-Passion“ auf Bachs Oratorium

Neumeier hat seine junge Kompanie zu glaubhaften Zeugen dieses Ringens um archetypische Fragen von Aufbruch, Schuld, Tod und Sühne geformt. Alle Achtung.

Hamburg, 26/04/2016

Zu den genialsten Schöpfungen John Neumeiers gehört seine 1980 kreierte „Matthäus-Passion“ auf Bachs Oratorium, entwickelt zunächst für die Hamburger Michaeliskirche und dann übernommen in die Staatsoper. Wie hier quasi aus der Gemeinde heraus, nämlich aus der Gruppe locker auf die Hinterbühne gestreuter junger Leute ein Passionsspiel entsteht, das immer auch uns selber meinen könnte, ist tief berührend.

Zum ruhigen Anfangschor bilden die Tänzer jene ruhig schreitenden Reihen und Kreise, die über den Rhythmus der Musik in Kultus und Handlung ziehen. Und dann finden sich einzelne, die jene Rollen übernehmen, die bis heute vorkommen, wo Menschen miteinander leben wollen: den Verräter, den Zweifler, den Leugner, den Liebsten, die mütterlich Sorgende und den sich selbst Aufopfernden. Und weil die Tänzer immer wieder runterkommen bis ins Publikum, sich auch mal auf ein paar freie Randplätze setzen, zwingen sie uns Zuschauer auch zur Stellungnahme, welche unsere Rolle in dem Geschehen wäre.

Wenn sich dann am Ende zum „Ruhet sanfte, sanfte ruh‘“ wieder diese beruhigenden Strukturen über die Bühne breiten, aus Reihen und Kreisen ein gleichmäßiges menschliches Gewebe entsteht, gehen die Einzelcharaktere wieder in der Gemeinschaft auf. Morgen könnte schon ein anderer der Christus oder der Verräter sein, und das übersetzt so schön wie schlicht das zentrale Anliegen des Christentums, wonach jeder Mensch immer wieder eine neue Chance hat, dass er fehlbar ist, „sündig“, wie man früher sagte, aber eben auch liebenswert, liebevoll und voller guter Anlagen.

John Neumeier hat seit der Uraufführung schon verschiedene Tänzergenerationen in dieses zentrale Werk des Hamburger Repertoires eingeführt. Die Wiederaufnahme am Sonntag stützte sich auf ein fast völlig verjüngtes Ensemble, mit jungen Neubesetzungen bis in die Solistenrollen. Und es ist berührend zu sehen, wie die jungen Leute, wenn sie als Gruppe nicht beteiligt sind, aufmerksam, fragend, staunend der Handlung zusehen, die Jüngsten in Turnschuhen, barfuß die Jüngerschar, in den weißen Hosen und ärmellosen Hemden zeitlos frisch und weltzugewandt, zugleich rein und schön tiefsten Fragen in ästhetischer Gemessenheit nachgehend.

Marc Jubete übernimmt die Rolle Jesu. John Neumeier hat sie selbst getanzt, Lloyd Riggins ihr mit durchdringendem Dulderblick über viele Jahre Gestalt gegeben. Jubete ist mit 24 Jahren extrem jung, schlank aufgeschossen, als Spanier mit dunkel-welligem Haar dem nazarenischen Typ Jesu nahe. Mit viel Weichheit und menschlicher Neigung hat er bereits in Neumeiers „Romeo und Julia“ einen Pater Lorenzo gegeben, der Romeo offenbar liebt. Auch für den introvertierten Christus, der immer duldet, immer wissend vergibt, bringt er dieses emotionale Charisma mit. Am stärksten wohl in Neumeiers wunderbarer Umsetzung der Verratsszene: Nachdem ihn alle Jünger umarmt oder geküsst haben, geht Jesus selbst auf den abseits bleibenden Judas zu und küsst ihn, ihm damit noch das Zeichen des Verrats abnehmend, auch diese Schuld verzeihend.

Es passt zu diesem jungen Christus, dass er einmal ausweichen will vor dem drohenden Tod, da treiben ihn die Leute wieder in die Enge, aus der Opferrolle kommt er nun nicht mehr raus. Aber in expressiver Verknotung, ein Bein weit nach oben ausgestreckt, die Glieder verkrampft und geknickt, weiß Jubete den Kampf mit sich selbst, diese Angst, dieses Bitten, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge, hochgelenkig auszudrücken. Eine große Gesamtleistung.

Seinen Widerpart als Judas und Pilatus tanzt mit Carsten Jung ein reiferer Tänzer. Neumeier hat den Verräter und den Verurteiler in einer Rolle zusammengefasst, beides Figuren, die mit ihrer Schuld nicht fertig werden. Jung ist zunächst der kraftvolle Machtmensch, der beim Abendmahl eher bedrohlich über Jesus Kopf greift. Als dann aber die Gefangennahme erfolgt ist, Jesu grausames Schicksal absehbar, kommt die Reue. Zur Bass-Arie „Gebt mir meinen Jesum wieder“ lässt Neumeier Judas die Verzweiflung dessen tanzen, der sich verrannt hat und nicht mehr zurückkann. Verlangend streckt er die Arme nach Jesus aus, springt ruhelos wie auf heißen Steinen und hängt sich zuletzt über den Galgenbaum.

Doch Neumeiers Doppelbesetzung gibt einen Hoffnungsschimmer zurück: der Gläubige findet auch Gnade, wenn es zu spät ist. Als Pilatus wird derselbe Tänzer mit Jesus und Josef von Arimathia (Thomas Stuhrmann) ein Kreuzabnahme-Trio ausführen, in dem jeder abwechselnd jeden wie ein Kreuz auf sich lädt: einer trage des anderen Last, bildlich dargestellt: Es gibt eben immer viel zu verzeihen zwischen den Menschen.

Auch Petrus hat Jesus um Verzeihung zu bitten als einer, der den Mund zu voll nahm und dann doch nicht zu Jesu Seite zu stehen wagte. Edvin Revazov stürzt nieder, schlägt sich zur Arie „Erbarme dich“ auf die Schenkel, läuft verzweifelt im Kreis und ballt auch liegend die Fäuste gegen sich. Ein Solo voller Spannung.

Und wo bleiben die anderen Jünger? Nach Jesu Gefangennahme sind sie in allen Winkeln von Bühne und Zuschauerraum versteckt, wagen sich nur verstohlen wieder vor. Zivilcourage, wer von uns wäre sich ihrer sicher? Und wie steht man recht für Christus ein? Der Schwertstreich gegen Malchus löst jedenfalls ein allgemeines Kämpfen und Lynchen aus. Die Tänzer bilden ja auch die Masse der Gegner, Volkesmut ist Wankelmut. Da stampfen sie dann ihre Wut heraus oder werden bei der Forderung nach der Freilassung des Barrabas und Jesu Kreuzigung zu einer wie von Stromstößen durchzuckten Meute. Vergeblich tanzt die zarte Xue Lin wie eine Maria Magdalena mit weichen Gesten, Spitze und weit beschriebenen Beinkreisen gegen das Stampfen der Feinde an. Und vereint sich in der Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ sogar mit Jesus zum Duett.

Den Lieblingsjünger Johannes zerreißt die Machtlosigkeit zu einem großen stummen Schrei. Zur Arie „Geduld“ zeigt ihn Alexandr Trusch ergreifend in dieser inneren Gespanntheit: mit steifen Armen nach links und rechts trippelnd wie ein schwankendes, wehrloses Rohr im Wind, sich dann wieder kraftvoll aufrichtend, zitternd, tretend, sich aber zur Friedfertigkeit bezwingend.

Ähnlich von Hilflosigkeit und Protest durchrüttelt wird Maria, die Mutter. Hélène Bouchet tanzt sie expressiv, mit fordernden Füßen und fragenden Händen zur Arie „Können Tränen meiner Wangen“. Aber die Folter kommt, die Hinrichtung. Und das Begraben, das in Neumeiers Bewegungen eher ein Neupflanzen ist. Erst nur Petrus und Magdalena, dann auch Johannes, Maria, zuletzt ein ganzes Oktett von Tänzern schwingt sich ein in das „Mache dich, mein Herze rein“, in klassisch weiten Schritten ausgreifend, einmal alle zusammen die Hände übereinander legend wie zum neuen Bund und diese in die Luft werfend, nicht mehr Sündige, Leidende, Trauernde, sondern wahrhaft befreit, als wüssten sie schon von der österlichen Auferstehung und dem Ende alles Todes.

Wenn zum Schluss alle zum „Ruhe sanft“ im selben Rhythmus vereinen und zeremoniell die Bühne erfüllen, fühlt man sich am Ende dieses vierstündigen Festspiels mit aufgehoben. Neumeier hat seine junge Kompanie zu glaubhaften Zeugen dieses Ringens um archetypische Fragen von Aufbruch, Schuld, Tod und Sühne geformt. Alle Achtung.
 

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